Das musst du wissen

  • Interessengruppen rekrutieren häufig Mitglieder des National- und Ständerates für ihre Führungs- und Beratungsgremien.
  • Dabei sind sie darauf bedacht, dass die Rekrutierten Expertise, Einfluss und ein bestehendes Netzwerk mitbringen.
  • Interessengruppen werben besonders zu Beginn neuer Legislaturperioden um Ratsmitglieder.

Im Frühjahr 2019 erzählte man sich im Bundeshaus, Ständerat Josef Dittli (FDP/UR) habe sich in der Gesundheitskommission bei der Beratung des Tabakproduktegesetzes für Werbeverbote stark gemacht. Diese Vorlage wurde bereits 2016 im Parlament diskutiert. Damals hielt Dittli noch wenig von Werbeverboten und spielte eine entscheidende Rolle bei der Rückweisung des Gesetzesvorhabens an den Bundesrat.

Dittlis Sinneswandel knapp drei Jahre später kam nicht von ungefähr: Seit Anfang 2018 präsidiert der ehemalige Urner Regierungsrat den Krankenkassenverband Curafutura, der sich für Einschränkungen bei der Tabakwerbung stark macht. Der Fall Dittli zeigt damit exemplarisch auf, wie sich Interessengruppen durch die Einbindung von Parlamentsmitgliedern in ihre Organisation privilegierten Zugang und Einfluss im Parlament verschaffen können. Gleichzeitig wird anhand der Rekrutierung von Gesundheitspolitikern durch den Krankenkassenverband auch offensichtlich, dass Interessengruppen bei der Besetzung ihrer Vorstände mit Abgeordneten strategisch verfahren.

Wie Interessengruppen Parlamentsmitglieder rekrutieren

Eine erste wichtige Rolle spielt der Zeitpunkt, wie ein kürzlich veröffentlichte Datenanalyse zeigt. Interessengruppen werben besonders zu Beginn neuer Legislaturperioden um Ratsmitglieder, wenn die neugewählten Ratsmitglieder ihre Arbeit aufnehmen und die Kommissionssitze neu verteilt werden. Gleichzeitig müssen sich jene Interessengruppen, deren Vorstandsmitglieder nach den Wahlen nicht mehr dem Parlament angehören, um neue Parlamentarierinnen und Parlamentarier bemühen.

Auch der Zeithorizont der möglichen Zusammenarbeit ist ein Entscheidungskriterium. Parlamentsneulinge und jüngere Abgeordnete werden bevorzugt rekrutiert, da sich dadurch die Chance auf eine längerfristige Zusammenarbeit erhöht.

Interessengruppen achten zudem auf die fachliche Eignung, wenn sie Positionen in ihren Führungs- und Beratungsgremien mit Ratsmitgliedern besetzen. Parlamentarierinnen und Parlamentarier bringen in knapp dreissig Prozent aller Fälle einen beruflichen Hintergrund mit, der sich mit dem Tätigkeitsfeld der Interessengruppe deckt. So wählte etwa die Branchenorganisation Milch im Jahr 2017 den Landwirt und Zuger Ständerat Peter Hegglin (CVP) zu ihrem neuen Präsidenten.

Die Analyse zeigt auch, dass knapp sechzig Prozent aller Ratsmitglieder zum Zeitpunkt ihrer Rekrutierung bereits in mindestens einer anderen Organisation aktiv sind, die im selben Politikfeld angesiedelt ist. Damit zeigt sich, dass Interessengruppen sowohl Wert auf Fachwissen als auch Vernetzung im relevanten Tätigkeitsgebiet legen.

Science-Check ✓

Studie: Interest Groups’ Recruitment of Incumbent Parliamentarians to Their BoardsKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Datengrundlage ist relativ gross und deshalb zuverlässig. Andere Faktoren wie zum Beispiel die politische Lage im Land zu einer gewissen Zeit wurden aber nicht berücksichtigt und könnten die Resultate beeinflussen. Zudem ist die Studie vor allem aussagekräftig für die Schweiz – allgemein übertragbar ist sie nicht. Es braucht daher weitere Forschung.Mehr Infos zu dieser Studie...

Attraktive Kommissionen

Von grosser Bedeutung bei der Besetzung von Führungs- und Beratungsgremien ist überdies der Einfluss, den Ratsmitglieder in bestimmten Politikfeldern dank ihren Mitgliedschaften in Parlamentskommissionen ausüben. Bei vier von zehn Rekrutierungen gehören die Ratsmitglieder einer Kommission an, deren Kompetenzbereich sich mit jenem der rekrutierenden Interessengruppe deckt. Nebst dem direkten Einfluss bei der Vorberatung von Geschäften in den Kommissionen kommt den Abgeordneten durch die Kommissionsmitgliedschaften auch eine wichtige Rolle bei der Mitgestaltung der Haltung ihrer Fraktion zu.

Die Zusammenarbeit zwischen Ratsmitgliedern und Interessengruppen ist jedoch nicht nur von Einfluss und Expertise abhängig. Auch ideologische Nähe spielt eine Rolle. Zudem sind die Mitglieder von Parteien der politischen Mitte in der Regel stärker gefragt als jene, die näher an den politischen Polen stehen. Ihnen kommt oftmals eine Funktion als Brückenbauer zu.

Netzwerkeffekte

Zu guter Letzt deutet die Studie auch auf das Vorhandensein von Netzwerkeffekten hin. Interessengruppen weisen eine starke Tendenz auf, Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus demselben Kanton zu rekrutieren, wo auch sie ihre Niederlassung haben. Die Organisationen holen somit Personen in Führungs- und Beratungsgremien, mit deren politischer Arbeit, Positionen und Werdegang sie bereits sehr gut vertraut sind. Zudem erhöht sich durch die Nähe auch die Möglichkeit, gemeinsam geografisch definierte Ziele zu verfolgen.

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Die Untersuchung legt offen, unter welchen Gesichtspunkten Interessengruppen die effektivsten Ratsmitglieder für sich gewinnen. Der Erfolg, der ihnen bei diesem Unterfangen beschieden ist, muss aus demokratietheoretischer Sicht als zweischneidiges Schwert gewertet werden. Die Ämter in Führungs- und Beratungsgremien von Interessengruppen bieten zum einen eine hocheffektive Möglichkeit, relevante Informationen verschiedener gesellschaftlicher Interessen schnell in den politischen Willensbildungsprozess einfliessen zu lassen.

Zum anderen birgt das System aber auch Gefahren. Es führt zu zwei Klassen von Interessengruppen. Während gewisse Interessen durch die Rekrutierungen privilegierten Zugang zu Ratsmitgliedern geniessen, bleiben andere aussen vor. Weiter kann sich der Einfluss der Interessengruppen auch auf Kosten anderer Akteure manifestieren. Im Falle Dittlis etwa stand der Einsatz zugunsten von Tabakwerbeverboten im Widerspruch zum Einsatz seiner Partei, der FDP, für die Wirtschafts- und Werbefreiheit.

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