Benedikt Meyer
Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.
Einmal, da wurde sie verhaftet. In Zürich, spätnachts. Sie war elegant gekleidet und allein unterwegs gewesen. Eine junge Dame, attraktiv, allein, um diese Uhrzeit. Der Polizei war das suspekt. So ging das doch nicht.
So ging es nun wirklich nicht: Im Herbst 1958 publizierte Iris von Roten ein Buch, mit dem sie es schaffte, fast die gesamte Schweiz gegen sich aufzubringen. Die Männer sowieso – und die Frauen auch. «Frauen im Laufgitter» war eine witzige, dreiste, schonungslose und krachend brutale Analyse der Geschlechterverhältnisse in einer Zeit, in der ein nächtlicher Spaziergang in Polizeigewahrsam enden konnte, in der die Rollenbilder versteift und Horizonte für Frauen eng waren.
Rechtlich, wirtschaftlich, gesellschaftlich oder sexuell: ein Frauenleben in der Schweiz war nicht zwingend schlecht – aber es war abhängig vom Goodwill der Männer. Und von Roten benannte das. Sie verlangte gleiche Chancen, gleiche Rechte, gleiche Löhne – und die freie Liebe.
Iris von Rotens Buch wurde zerrissen. Die Kritiker zielten am Text vorbei auf die Autorin. Die «Nationalzeitung» zeigte sie als männerpeitschende Domina. Jemand schrieb «Hure» an ihr Haus. Sogar Frauenrechtlerinnen distanzierten sich. Ein halbes Jahr vor der ersten Volksabstimmung übers Frauenstimmrecht waren die Damen um sanfte Töne bemüht – und schoben das krachende Nein vom Frühling 1959 bequemerweise in von Rotens Schuhe.
Dass die Schweiz überhaupt über das Frauenstimmrecht abstimmte, lag an Iris‘ Mann. Peter von Roten: Walliser Adelsfamilie, katholisch-konservative Partei und katholisch-konservative Prägung. Peter hatte den Vorstoss fürs Frauenstimmrecht im Parlament eingebracht. Er war dafür (und für sein Engagement zur Abschaffung der Armee) schon 1951 abgewählt worden.
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Iris und Peter lebten eine Amour fou zwischen Basel, Raron und zeitweise New York. Beide begehrten sich mit heisser Intensität – und hatten (mit Kenntnis des anderen) auch aussereheliche Affären. Von der Hausarbeit liess sich Iris von Roten per Ehevertrag entbinden. Ihre Tochter gab sie in sorgsam ausgewählte Krippen, Heime und Internate.
Dass «Frauen im Laufgitter» nicht zum internationalen Klassiker der feministischen Literatur wurde, lag nicht am Text. Der war sogar witziger und spitzer, als Beauvoirs «Le deuxième sexe». Aber eine geborene Meyer war eben keine de Beauvoir, die Schweiz nicht Paris und Peter nicht Sartre. Ausserdem war Rotens Verlag mutlos: In nur elf Wochen war die erste Auflage ausverkauft, nach der zweiten war Schluss und das Buch bis zur Neuauflage durch einen anderen Verlag 1991 vergriffen.
Die Zeit war überreif für Iris von Rotens Text. Bloss die Schweiz war es nicht. Nach dem Skandal zog sich von Roten aus der öffentlichen Debatte zurück, verlegte sich auf Reisereportagen und die Malerei. Radikal blieb sie dennoch. Von Alter, Krankheit und Schmerzen gezeichnet, stieg sie eines Morgens im Jahr 1990 in den Dachstock ihres Hauses. Peter schrieb später, als er sie gefunden habe, habe sie ausgesehen, «wie ein Ausrufezeichen nach einem besonders tapferen Satz».