Sturm in Bümpliz. Wie aufgebauscht vom Orkan Sabine, der draussen Blätter und Äste durch die Strassen wirbelt, fegen die Kinder der ersten und zweiten Klasse ins Schulzimmer. Nur langsam kehrt Ruhe ein und die Kinder sitzen zeichnend am Platz.

Abschlussarbeiten Wissenschaftsjournalismus


higgs unterstützt Ausbildung. Deshalb bringen wir hier in einer Serie die diesjährigen Abschlussarbeiten des CAS Wissenschaftsjournalismus der Schweizer Journalistenschule MAZ. Hier findest du die Ausschreibung des nächsten Kurses.

Heute steht ein ganz besonderes Fach auf dem Stundenplan: Glück. Barbara Jüsy ist Heilpädagogin und unterrichtet in diesem Rahmen Lebenskompetenzen. Der 30-jährigen Bernerin ist dieses Fach eine Herzensangelegenheit: Sie wünscht sich, das Klassenzimmer zu einem Ort zu machen, an dem man sich wohl fühlt und einander mit Freundlichkeit begegnet.
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Sie zeigt auf die Wandtafel, an welcher drei Zeichnungen hängen. Zu sehen ist jeweils ein Schiff: einmal ohne Wind in den Segeln, dann mit Wind und schliesslich noch ein Schiff in einem wilden Sturm. «Wie können wir dieses Segelschiff mit unseren Gefühlen vergleichen?», fragt sie in die Runde. Kenans* Hand flitzt in die Höhe: «Wenn ich zum Beispiel ganz fest wütend bin, dann geht es mir wie dem Schiff im Sturm.» Jüsy nickt und erschliesst mit den Kindern, wie Windstärken Gefühlszuständen ähneln: von Apathie, wenn gar keine Energie da ist, über Ausgeglichenheit bis hin zum Sturm.

Internationales Bildungsprogramm

Die Inhalte und den Aufbau des Fachs Glück hat sich Barbara Jüsy indes nicht selber ausgedacht – sie kommen aus einem Bildungsprogramm mit dem Namen SEE-Learning. In dessen Fokus steht soziales, emotionales und ethisches Lernen. Entwickelt wurde das Programm an der Emory Universität in Atlanta (USA). Bei der Erarbeitung flossen Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie, den Neurowissenschaften, den Erziehungswissenschaften und weiterer Disziplinen mit ein.

Der Anstoss für die Bildungsinitiative kam aber nicht aus den USA oder der Schweiz, sondern aus Asien – vom Dalai Lama. Es war sein lang gehegter Wunsch, menschliche Werte und ein Gefühl der globalen Verantwortung in die Bildung zu integrieren. Sind die Inhalte des Programms also buddhistisch gefärbt? «Nein», sagt Silvia Wiesmann, Koordinatorin für SEE-Learning in der Schweiz. «Der Dalai Lama gab lediglich den Anstoss für das Programm, anschliessend haben Forschende der Emory Universität die Inhalte erarbeitet», sagt die langjährige Achtsamkeitslehrerin. Die bei SEE-Learning enthaltenen Ansätze basierten nicht auf einer spezifischen religiösen, kulturellen oder ethnischen Tradition und seien somit für den Einsatz auf der ganzen Welt geeignet.

Wiesmann arbeitet ehrenamtlich für das Projekt. Sie ist sich bewusst, dass es bereits interessante bestehende Programme in diesem Bereich gibt. Jedoch seien diese bei weitem nicht so umfassend wie SEE-Learning – mit Lehrplänen für alle Bildungsstufen. Einen weiteren Vorteil sieht sie beim fächerübergreifenden Einsatz des Programms. «SEE-Learning hat das Potenzial das Klima einer ganzen Schule positiv zu beeinflussen», meint Wiesmann.

An der Schule in Bümpliz ist gerade die grosse Pause vorbei. Manuel* springt zu seiner Lehrerin und erzählt ihr aufgebracht von einem Streit auf dem Pausenhof. «Jetzt bin ich gerade in der Sturmzone», klagt er. Seine Lehrerin hört ihm geduldig zu. Die beiden diskutieren eine Strategie, die er nun anwenden könnte, um sich wieder zu beruhigen. «Durch das Schulfach Glück haben wir eine gemeinsame Sprache, was Emotionen und das Zusammenleben angeht», sagt Jüsy. Das sei sehr hilfreich. Ein Schüler habe sie auch schon gefragt, ob sie etwa gerade in der Sturmzone sei, als ihre Stimme etwas lauter wurde – und ihr sogleich eine Strategie vorgeschlagen: «Frau Jüsy, atmen Sie drei Mal tief ein und aus.»

Von der Theorie in die Praxis

«Das Beispiel zeigt, dass es im Fach Glück nicht nur um theoretisches Wissen geht», sagt Jüsy. Sowohl Kinder wie auch Lehrpersonen probieren eine im Unterricht besprochene Strategie im Leben aus. «Als Lehrerin gebe ich Gedankenanstösse, danach sollen die Kinder das vermittelte Wissen – wie etwa eine Strategie zur Selbstregulation – diskutieren, hinterfragen und im Alltag ausprobieren.» Die eigene Erfahrung führe schliesslich zu einem Aha-Erlebnis – und langfristig zu einem verkörperten Verständnis.

Dass Kinder in der Schule lernen sollten, kritisch zu denken, dem stimmt auch Dominik Helbling zu. Er ist Professor für Ethik und Religionen an der Pädagogischen Hochschule in Luzern und war bei der Erarbeitung des Lehrplans 21 beteiligt. Gerade wenn es in Schulfächern um ethisches Lernen gehe, dürften Lehrpersonen nicht einfach Werte vermitteln. «Normen und Werte sind immer ein Aushandlungsprozess in einer Gesellschaft», so Helbling.

Insgesamt findet er, dass SEE-Learning ein interessanter Ansatz sei und legitimen Bildungszielen diene. Einen kritischen Punkt sieht er jedoch bei der Einbettung so umfassenden Programme im bestehenden Bildungssystem. «Solche Projekte kommen von aussen und schauen nicht, welch viele guten Ansätze es bereits gibt», sagt Helbling. Zudem sei es auch mit der Übersetzung der Lehrpläne vom Englischen ins Deutsche nicht getan. Inhalte müssten zusätzlich noch an die Gegebenheiten eines Landes angepasst werden, so Helbling.

Pilotprojekte und Forschung

Diesen Herausforderungen ist sich auch Corina Aguilar-Raab bewusst. Sie ist in Deutschland für SEE-Learning verantwortlich und forscht am Institut für medizinische Psychologie der Universität Heidelberg. «Wir wollen das Programm zukünftig an mehreren Schulen eng begleiten und beforschen», so Aguilar-Raab. Ziel sei es, in einer ersten Phase herauszufinden, welche Unterstützung und Schulungen Lehrpersonen für die Umsetzung bräuchten. An der Forschung werde voraussichtlich ein Verbund mehrerer Hochschulen aus der Schweiz und Deutschland beteiligt sein.

Forschung wird bisher nur im Kleinen gemacht – oder besser gesagt, von den Kleinen: Zum Ende der Schulstunde suchen die Kinder in ihren Köpfen und Herzen nach Glücksmomenten und schreiben diese auf Zettelchen. Danach legen sie die farbigen Papierlein in ihre Glücksbox – wo sie schon ganz viele andere schöne Momente und Gedanken gesammelt haben. Auf die Frage, was der Unterschied zu anderen Fächern sei, meint Aline*: «Das Schulfach Glück ist wie echt – weil ich es im täglichen Leben brauchen kann.»

*Namen dem Autor bekannt
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