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Der Podcast verschriftlicht:

Jan Vontobel: In den letzten Tagen sind vor allem in asiatischen Ländern diverse Studien erschienen, die zeigen, dass das Virus bei als geheilt geglaubten Patienten wieder aufflammen kann. Wie kann man das erklären? Gibt es doch keine Immunität nach durchgemachter Krankheit?

Beat Glogger: Ich glaube nicht, dass das eine Frage der mangelnden Immunität ist oder dass sich die Geheilten erneut angesteckt haben. Ich gehe davon aus, dass die Genesenen die Hygienemassnahmen intus haben und anwenden, also dass sie sich nicht gleich wieder exponieren und angesteckt werden.

Es gibt eine andere Erklärung für diese Reaktivierung: Wir haben ja gehört, dass Sars-CoV-2 ein junges Virus ist, das seine Nischen im menschlichen Körper noch nicht ganz gefunden hat. Oft ist es im Rachen und in den bronchialen Schleimhäuten anzutreffen. Aber das Virus kann zum Teil auch in Nervenzellen nachgewiesen werden, zum Beispiel im Riechnerv.

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Man kann sich nun vorstellen, dass jemand vom ersten Schub geheilt ist, was durch einen negativen Abstrich im Rachen bestätigt wird. Vielleicht sitzt das Virus aber mittlerweile im Riechnerv und löst von dort nochmals einen Ausbruch aus. Es ist durchaus plausibel, dass irgendwo im Körper, wo wir nicht testen, ein Virus-Depot schlummert.

Jan Vontobel: Dazu passen würde, dass man bei gewissen Patienten das Virus auch nach Verlassen des Spitals im Kot nachweisen konnte. Passt das auch zu den Erklärungen des Phänomens des Wiederaufflammens? Müssen uns solche Meldungen beunruhigen?

Beat Glogger: Nein, solche Phänomene sind im normalen Bereich. Wir sind dabei, neues Wissen über das Virus und eine bisher unbekannte Krankheit zu schaffen. Wir wissen einfach noch nicht abschliessend, wo in unserem Körper sich das Virus überall aufhalten kann. Wir sollten solche Meldungen als Chance sehen, um noch mehr über Sars-CoV-2 zu lernen, um noch besser in der Abwehr der Krankheit zu werden.

Jan Vontobel: Aktuell bewegt sich die Diskussion ja in Richtung Lockerung der Sicherheitsmassnahmen. Der Bundesrat will morgen kommunizieren, Vita der Fahrplan aussieht. Österreich hat bereits gewisse Läden aufgemacht. Was muss man beachten, um den Fahrplan der Lockerungen zu bestimmen?

Beat Glogger: Wichtig ist, dass wir das bestehende Wissen über diese Pandemie nicht einfach über Bord werfen. Ich warne vor radikalen Lösungen, vor dem schnellen Öffnen. Die Wiederaufnahme der Arbeit, des Gewerbes, des sozialen und kulturellen Lebens, der Schulen muss ganz eng mit medizinischen und epidemiologischen Beobachtungen verknüpft werden. Wir sollten bei jeder Massnahme prüfen, ob sie zielführend war. Was gut funktioniert, sollte beibehalten werden.

Und kann man für einzelne Sektoren, zum Beispiel Schulen oder Kleingewerbe, ganz spezifisch nach Sektoren Lockerungen einführen?
Aber es gibt keinen Zweifel: Die Lockerung ist nötig. Der Ausnahmezustand zeigt seine Spuren nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychologisch. Wir müssen uns in Richtung Normalität bewegen, aber schnell wird das nicht gehen.

Jan Vontobel: Aktuell sind die Fallzahlen von Neuinfektionen relativ tief in der Schweiz, die Spitäler sind auch nicht voll ausgelastet. Sind baldige Lockerungen also vertretbar?

Beat Glogger: In gewissen Bereichen sollte das möglich sein. Aber man kann nicht – wie man das vermehrt hört – aufgrund der sinkenden Fallzahlen behaupten, dass Covid-19 gar keine Bedrohung sei, oder dass die Massnahmen unverhältnismässig waren. Die Fallzahlen gehen herunter, gerade weil wir viel machen. Es wäre fatal, daraus zu schliessen, dass die Massnahmen überflüssig waren.

Jan Vontobel: Aber wir wissen immer noch nicht, wie viele Leute tatsächlich infiziert waren oder sind. Die Schätzungen der Dunkelziffer gehen davon aus, dass fünf- bis zehnmal mehr Leute infiziert waren als positiv getestet wurden. Müsste man nicht mehr testen, um die Lockerung zu begleiten?

Beat Glogger: Ja, unbedingt. Aber es geht nicht darum, einfach mehr Leute zu testen, sondern das intelligenter zu machen. Bis jetzt wurden hauptsächlich Personen getestet, die Symptome zeigten. Wir müssen jetzt aber weg kommen von dem symptomgeleiteten Testen zum intelligenten Testen. Der Moment ist gekommen, um mit einem gut konstruierten Sample der Schweizer Bevölkerung longitudinale, Studien zu starten. Das heisst, man testet sie nicht nur einmal, sondern im Verlauf der Zeit mehrmals, von mir aus jede Woche. Wenn wir die Personen aus dem Sample immer wieder und nicht nur einmal testen, bekommen wir auch im zeitlichen Verlauf ein gutes Bild über die Effekte der Massnahmen auf die Bevölkerung.

Jan Vontobel: Bis jetzt wurden die Tests aber nicht so gehandhabt. Heisst das nun, dass wir gar keine Datengrundlage für die Lockerung haben?

Beat Glogger: Sagen wir es so: Wir müssen trotz etwaiger Unsicherheiten die bestehenden Daten nutzen, um einzuschätzen, wo eine Lockerung möglich ist. Und dann müssen wir die Situation regelmässig neu evaluieren. Es gibt Bereiche, bei denen eine Lockerung einfacher ist, bei anderen kann man weniger gut lockern.

Zum Beispiel die Öffnung der Schulen ist wichtig. Einerseits haben Schulschliessungen drastische Auswirkungen auf Familien und auf ihre Erwerbstätigkeit und Einkommen. Da muss man aber genau definieren, welche Einrichtungen soll man zuerst öffnen und wie?

Die Pädagogen zum Beispiel machen den Vorschlag, dass man zuerst die Primarschulen öffnet, weil diese Schülerinnen und Schüler auf eine enge Betreuung angewiesen sind. Die Kindertagesstätten hingegen sind problematisch, weil man die Hygienemassnahmen nicht umsetzen kann. Man soll von Klassenstufe zu Klassenstufe kontinuierlich öffnen. Universitäten und Fachhochschulen kann man hingegen viel später öffnen. Die Studierenden sind Erwachsene, die besser mit dem Lernen aus der Ferne umgehen können. Man muss wirklich von Schulstufe zu Schulstufe schauen, was sinnvoll ist.

Jan Vontobel: In diese Richtung gehen ja auch die Empfehlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina (PDF). Die Schulen sollen möglichst schnell wieder geöffnet werden, aber unter Einhaltung des social distancing, also mit maximalen Klassengrössen von 15 Kindern und mit speziellen Regeln für die Pausen, damit nicht alle gleichzeitig in die Pause gehen. Ist das aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll?

Beat Glogger: Wir haben ja gesehen: Abstand halten wirkt. Also wäre es klug, die Schülerzahlen zu begrenzen. Bei der konkreten Umsetzung gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann zum Beispiel die schwächeren Schüler mehr in die -Schule holen und die stärkeren weniger, ohne da gleich wieder eine soziale Ausgrenzung zu schaffen. Gewisse Fächer werden abwechselnd vor Ort oder im Fernunterricht gelehrt. Wichtig ist, dass die Kinder wieder in eine Tagesstruktur kommen. Und dass auch die Familien wieder in eine Tagesstruktur kommen.

Jan Vontobel: Die deutsche Akademie der Wissenschaften hat sich auch der Frage gewidmet, ob man Risikogruppen weiterhin im Lockdown isolieren sollte. In dieser Frage gab es aber ein klares Nein. Ist das nicht widersprüchlich? Denn diese Gruppen haben ja das größte Risiko für eine Covid-19 Erkrankung.

Beat Glogger: Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Natürlich ist es auf der medizinischen Ebene klar, dass wir die Risikogruppen schützen sollten. Wenn wir das aber aus einer ethischen und rechtlichen Perspektive anschauen, sieht es anders aus. Zwangsverordnungen für die Risikogruppen können als unsolidarisches Einsperren empfunden werden.

Jan Vontobel: die deutschen Akademien nennen das eine «paternalistische Bevormundung».

Beat Glogger: genau: paternalistisch wird das genannt. Trotzdem wäre es jetzt nicht sinnvoll, alle Alters- und Pflegeheime einfach wieder zu öffnen. Auch dort muss es Regeln geben für eine teilweise Öffnung: Anpassungen im internen Restaurant – dass zum Beispiel nur jeder zweite Platz besetzt wird – Beschränkung der Besuche, damit man die Abstandsregeln einhalten kann. Wie gesagt, es gibt keine einfachen, radikalen Lösungen.

Jan Vontobel: Um Lösungen für eine Lockerung der Massnahmen zu finden muss man verschiedene Wissenschaftszweige berücksichtigen. Das eine sind medizinische Überlegungen, das andere aber soziale und wirtschaftliche Überlegungen. Diese sind teilweise gegenläufig – wie soll da die Politik Entscheidungen treffen?

Beat Glogger: Es ist immer ein Abwägen. Gerade deswegen ist der Bericht der Leopoldina so überzeugend: Da sind viele Fachrichtungen vertreten, Autorinnen aus der Psychologie, der Soziologie, der Pädagogie, verhältnismässig wenig Biologie und Medizin. Aber wie es schon in der Einleitung heisst: Die bisherigen Erkenntnisse und die medizinischen Grundsätze bleiben zentral, aber für die Entscheidungsprozesse über Massnahmen müssen nun auch die Sozialwissenschaften einbezogen werden. Es ist jetzt die Aufgabe der Politik und der Behörden, die verschiedenen Überlegungen gegeneinander abzuwägen und einen gangbaren Weg zu finden.

Ich finde es übrigens angebracht, dass in der ersten Phase hauptsächlich die Epidemiologen und die Virologen massgebend waren, denn wir standen vor einer Ausnahmesituation. Man muss sich vorstellen, wenn das Haus brennt, fragt man sich auch nicht, ob die Model Eisenbahn im Keller durch das Löschwasser beschädigt werden könnte. Dieses Problem kann man später mit der Versicherung oder mit wem auch immer regeln. Aber zuerst geht es darum, den Brand zu löschen.

Zuerst muss man das Hauptproblem – die Pandemie – verstehen und Lösungsansätze suchen, danach kann man sich um die anderen Themen kümmern.

Jan Vontobel: Viele Leute sehnen sich nach dem «normalen» Leben, man redet von der schrittweisen Rückkehr zur Normalität. Es gibt aber Länder wie Dänemark, die bis Ende August alle Grossveranstaltungen abgesagt haben. Wäre es nicht ehrlicher gegenüber der Bevölkerung, zu sagen: wir brauchen einen langen Atem. Und Grossveranstaltungen sind bis Ende August nicht möglich?

Beat Glogger: Das ist sicherlich so. Meine Empfehlung wäre, jetzt wirklich nur die lebenswichtigen Bereiche zu öffnen, wie zum Beispiel die Schulen oder das Gewerbe. Wir können es uns nicht leisten, Tausende von Konkursen von KMUs in Kauf zu nehmen. Denn diese fallen nach dem Konkurs den Start, also den Steuerzahlern zur Last. Aber auf das Open Air und die großen Konzerte müssen wir diesen Sommer hingegen verzichten. Ich habe auch schon Tickets für ein open Air. Und natürlich schmerzt es, dass ich meine Band nicht sehen werde. Aber da müssen wir einfach Solidarität verlangen.

Jan Vontobel: Österreich hat gestern einen Grossteil der Läden wieder geöffnet, mit einem Obligatorium zu Tragen von Mund- und Nasenschutz. Ist das jetzt auch ein bisschen Glück für die Schweiz, dass wir die Effekte der Öffnung in Österreich beobachten können?

Beat Glogger: Es ist sogar zwingend, dass wir die Nachbarländer beobachten und von diesen Erfahrungen profitieren. Das hat nichts mit Glück zu tun, sondern mit Schlauheit. Österreich kann es sich erlauben, die Massnahmen zu lockern, denn das Land war ja auch schnell im Ergreifen von Massnahmen und hatte insgesamt weniger Fälle.

Der Mediziner Paul Robert Vogt hat kürzlich angeprangert, dass Europa viel zu wenig von den Erfahrungen der zuerst betroffenen Länder, vor allem von China oder Südkorea, profitiert hat. Wenn man sieht, wie schnell dort die Kurve der Neuansteckungen abgeflacht ist, hätte man viel von diesen Ländern lernen können in Bezug auf Tests und radikales contact tracing.

Ich finde auch, dass wir jede Chance nutzen sollten, von den Fehlern und den Fortschritten der anderen Länder zu lernen. Der Bericht der Leopoldina hält auch fest, dass wir diese Krise nur bewältigen können, wenn wir international koordiniert vorgehen. Es darf nicht jedes Land, jede Region einen Sonderzug fahren. Aber dort, wo es nötig ist, regional angepasst zu reagieren, da soll man. Corona ist ein länderübergreifendes Problem und kann auch nur als solches gelöst werden.

Jan Vontobel: Ein weiterer wichtiger Punkt der Leopoldina Studie ist die Empfehlung, dass die Regierungen vermehrt die sozialen und psychologischen Auswirkungen der Sicherheitsmassnahmen abfedern sollen. Auch müsse man langsam von Anordnungen zu Empfehlungen übergehen. Was meinen die Autoren damit?

Beat Glogger: Es geht darum, dass die Bevölkerung mit der Zeit gereizt auf Anordnungen und Befehle reagiert, die Massnahmen stossen dann auf Widerstand. Deswegen ist eine klare Kommunikation ganz wichtig. Je besser die Bevölkerung versteht, warum gewisse Massnahmen nötig sind, desto eher werden sie befolgt. Ein Beispiel dazu: Es gab kein Reiseverbot an Ostern und trotzdem hat der Verkehr in den Süden um 90 Prozent abgenommen. Die Leute haben verstanden, dass man das Tessin jetzt nicht noch mehr belasten kann. Wenn man den Leuten hingegen einfach Vorschriften macht reagieren sie eher gereizt.

Die psychologischen Aspekte sind enorm wichtig. Es gibt die Gefahr, dass die Solidarität zu bröckeln beginnt, auch weil die Nerven blank liegen. Da müssen wir Ein Gefühl von Gemeinsamkeit aufbauen und dieses Gefühl kann nur aufgebaut werden, wenn wir das Virus als Gegner von aussen erkennen. Und nicht, dass die Nachbarin oder der Nachbar eine Gefahr sind, weil sie oder er das Virus tragen könnte. Das darf nicht passieren. Wir müssen Covid-19 gemeinsam eindämmen, ohne Misstrauen gegenüber unseren Mitmenschen.

Jan Vontobel: Da kommen dann fast psychologische Aspekte in Spiel, die bis jetzt nur stiefmütterlich behandelt wurden in dieser Krise.

Beat Glogger: Das deckt sich mit meiner Einschätzung, wobei ich nochmals betonen möchte, dass man am Anfang schnell und einschneidend handeln musste. Aber dann muss man vom Anordnen zum Erklären übergehen und auch ganz konkret kommunizieren. Bundesrat Berset hat bekannterweise gesagt, die Massnahmen gegen das Coronavirus seien kein Sprint, sondern ein Marathon. Das ist zwar ein schönes Bild, aber man möchte doch wissen, wie lange ein Marathon ist. Die Bevölkerung sollte bald etwas genauer wissen, was das konkret bedeutet: zwei Monate? Vier Monate? Das muss kommuniziert werden, muss erklärt werden. In manchen Bereichen, wie zum Beispiel Grossveranstaltungen und Konzerte, wird der Ausnahmezustand noch anhalten, auch wenn das für Unmut sorgt.

Jan Vontobel: Diese psychologischen Effekte sind dann ein Thema für eine weitere Sendung.

Dieser Podcast wurde verschriftlicht von unserer Leserin Corinne Pernet. Falls du auch Zeit und Lust hast, eine Episode des Coronavirus-Podcasts zu transkribieren – melde dich bei uns via info@higgs.ch. Vielen Dank!

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Im Jahr 2020 produzierte higgs in Kooperation mit Radio 1 einen täglichen Podcast zur Corona-Pandemie. higgs-Gründer Beat Glogger und Radio-1-Chefredaktor Jan Vontobel analysierten das aktuelle Geschehen möglichst unaufgeregt mit Hintergrundinformationen aus der Wissenschaft. Auf Radio 1 wurde die Sendung täglich von Montag bis Freitag nach den 16-Uhr-News ausgestrahlt.
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