Chamonix, Frankreich, Ende Juni 2005. Der Ausblick auf das Montblanc- Massiv ist plötzlich neu. Der Grund: Ein Bergsturz am Petit Dru hat den Bonatti-Pfeiler, die bei Alpinisten gut bekannte Westflanke, zum Verschwinden gebracht.

Der Petit Dru ist bereits seit den 1950er-Jahren Schauplatz regelmässiger Felsstürze. Da sich 2005 ganze 300 000 Kubikmeter Fels lösten, gab dies den Ausschlag zu einer genaueren wissenschaftlichen Beobachtung. Zwischen damals und 2016 scannten Forschende der Universität Lausanne die Felswand mit einem Laser. Das Ziel: die Struktur des Massivs zu charakterisieren und Risse und instabile Felsmassen zu lokalisieren. Parallel dazu wurden alle mehr als 300 Felsstürze in diesem Zeitraum erfasst. «Eine Fleissarbeit», erinnert sich Michel Jaboyedoff, Leiter des Projekts und Spezialist für Umweltrisiken an der Universität Lausanne.

Präzision mit Laser und Drohnen

Risikoprävention ist wünschenswert. Aber es ist kaum realistisch, alle Alpengipfel ständig zu überwachen. Gegenwärtig konzentrieren sich die Forschenden deshalb auf instabile Zonen. Mit Lasern können genaue Messungen in unzugänglichen Gebieten durchgeführt werden. «In Zukunft Drohnen mit Lasern auszustatten, würde uns weitere Perspektiven eröffnen », meint Michel Jaboyedoff. Eine weniger kostspielige Alternative ist die Fotogrammetrie – die Konstruktion von 3D-Bildern aus Fotografien –, wodurch gemäss dem Erforscher von Umweltrisiken auch Bildmaterial aus Archiven einbezogen werden könnte.

«Durch diese Aufzeichnungen konnten wir eine gewisse Regelmässigkeit der Felsstürze erkennen», erklärt Antoine Guérin, der für die Erfassung zuständig ist. Nach dem einschneidenden Ereignis 2005 vergrösserten sich zunächst die Abstände zwischen den Felsstürzen kontinuierlich, und ihr Umfang nahm ab. Dann wurden sie wieder häufiger und umfangreicher, bis zu einem grossen Felssturz im Jahr 2011, nach dem ihre Häufigkeit und ihr Volumen erneut sank. «Eine wichtige Entdeckung: Wenn sich diese Regelmässigkeit bestätigt, lassen sich grosse Felsstürze vorhersagen», meint der Forscher.

Der Klebstoff der Alpen schmilzt

Für Christian Huggel, Geograf an der Universität Zürich und Spezialist für Klimarisiken in den Bergen, ist diese Studie sehr lehrreich. «Sie zeigt, dass sich die Erosion in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung, dem Rückzug der Gletscher und dem Tauen von Permafrost. Wir haben dies in anderen Gebieten der Alpen ebenfalls festgestellt, zum Beispiel im italienischen Teil des Monte Rosa. Es ist möglich, dass es in Zukunft bei weiteren Steilhängen zu mehr Instabilitäten kommt.»

«Die Ursachen grosser Ereignisse sind noch weitgehend unbekannt. Es ist möglich, dass Wasser in Spalten eindringt, Druck ausübt und Risse erzeugt.»
Marcia Philipps, Geografin

Tatsächlich ist der Gesundheitszustand des Permafrosts besorgniserregend. Das Eis in Felsspalten beginnt in immer grösserer Höhe zu schmelzen und lässt Wasser in tiefe Bereiche dringen. Marcia Phillips, Geografin und Leiterin der Forschungsgruppe Permafrost am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, erklärt: «Wir versuchen alle Felsstürze der Schweizer Alpen zu erfassen. Die grossen Ereignisse – mit mehreren Zehntausend Kubikmetern Gestein – werden vom Schweizerischen Erdbebendienst präzise aufgezeichnet. Die kleineren werden von Wanderern oder Helikopterpilotinnen gemeldet, aber dabei entsteht eine gewisse Verzerrung, weil sich zu bestimmten Zeiten mehr Leute in den Bergen aufhalten.» Es ist deshalb schwierig, präzise Statistiken zu führen.

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Aber die Forscherin bleibt den Ursachen auf der Spur: «Kleinere und mittlere Ereignisse entstehen oft aufgrund des Schmelzens von Permafrost im Sommer. Dagegen sind die Ursachen grosser Ereignisse noch weitgehend unbekannt. Es ist möglich, dass Wasser in Spalten eindringt, Druck ausübt und Risse erzeugt. Um Gefahren einzudämmen, ist es daher wichtig, die innere Struktur des Berges wie beim Petit Dru zu erforschen.»

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