Das musst du wissen

  • Bislang können erneuerbare Energien den Strombedarf Europas nicht decken – es fehlen die nötigen Speicherkapazitäten.
  • Politische Kräfte fordern daher andere Kraftwerke, um den drohenden Energiemangel abzuwenden.
  • Nun wird der Bau eines neuen Reaktors diskutiert, doch die Hürden dafür sind hoch.

Den Text vorlesen lassen:

Europa steuert auf einen Energieengpass zu: Der Ausstieg aus der Kohle und die Abschaltung alter Kernkraftwerke stellt das eng verknüpfte Stromnetz der europäischen Länder vor eine Herausforderung. Als Folge steigen die Stromkosten. Eine Studie des Bundes legt sogar nahe, dass es in der Schweiz ab 2025 in Ausnahmesituationen zu einem Elektrizitätsengpass kommen könnte.

Ginge es nach dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, liegt die Lösung in der Nuklearenergie. Sie verursacht ähnlich wenig CO₂-Emmissionen wie erneuerbare Energien.  Daher will nun auch die EU-Kommission Atomkraftwerke als nachhaltig deklarieren. Und in der Schweiz fordert SVP-Nationalrat Christian Imark vom Bund eine Neubeurteilung der Nuklearenergie. Doch was würde der Bau eines neuen Atomkraftwerks für die Schweiz bedeuten technisch, wie auch wirtschaftlich?

Die Positionen der Experten

In der emotional geführten Debatte um Kernenergie geht praktisch jede Aussage mit einer Positionierung einher. Auch die in diesem Artikel zitierten Experten haben eine persönliche Haltung: Nuklear-Sicherheitsexperte Andreas Pautz bezeichnet sich selbst als «kritischen Kernkraftbefürworter» und ist überzeugt, dass Kernkraftwerke sicher betrieben werden können. Fabian Lüscher vertritt die Position der Schweizerischen Energie-Stiftung – sie fordert einen schnellen Ausstieg aus der Atomkraft.

Energiemangel im Winter

Im Kern der Diskussion um Nuklearenergie geht es darum, dass die erneuerbaren Energien einen gewichtigen Nachteil haben: Die Produktion von Strom aus Wind und Sonne ist je nach Wetter grossen Schwankungen unterworfen. Und auch die Jahreszeiten spielen eine Rolle: Bei der Solarenergie, und auch bei der für die Schweiz bedeutsamen Wasserkraft ist die Produktion im Sommer höher als im Winter.

Der Energiebedarf hingegen folgt einem mehr oder weniger fixen Schema: Tagsüber brauchen wir mehr Strom, nachts weniger – im Winter ist der Strombedarf höher als im Sommer. Das führte in den letzten Jahren regelmässig dazu, dass die Schweiz im Sommer Strom exportierte, im Winter hingegen aus dem Ausland beziehen musste. Diese saisonalen Effekte werden noch ausgeprägter, wenn sich der Energiemix weiter zugunsten der erneuerbaren Energien verschiebt. Um solche Schwankungen auszugleichen, ist die Schweiz auf das engmaschig verknüpfte europäische Stromnetz angewiesen.

Doch der internationale Ausgleich kann auch in umgekehrter Richtung nötig sein: Bestehen in den französischen Kernkraftwerken Überkapazitäten, füllt Atomstrom aus Frankreich die Pumpspeicherseen in der Schweiz. Dieser Bedarf an Import oder Export zeigt deutlich: Das Schweizer Stromnetz kann nicht als eigenständig betrachtet werden.

«Der Ausbau der Speicherkapazitäten ist teuer und beansprucht ausserdem viel Zeit.»Andreas Pautz, Professor für Kernphysik an der EPFL und dem Paul Scherrer Institut

Eng verbunden mit dem Versorgungsproblem ist die Speicherung des Stroms. Die Schweiz mit ihren vielen Stauseen verfügte bislang über genügend Speicherkapazität, in Europa hingegen ist die Speicherung des Stroms das grösste Hemmnis für die Energiewende. Speicherung aber ist nötig, um die schwankende Versorgung durch erneuerbare Energien auszugleichen.

Keine optimale Lösung

Versorgungsprobleme sind also absehbar – dafür gibt es verschiedene Lösungsansätze: Ein Ausbau der Speicherkapazitäten oder der Neubau von Gas- oder Atomkraftwerken. Der einfachste Weg wären Gaskraftwerke: Deren Bau ist am wenigsten aufwändig, und sie können Strom äusserst flexibel zur Verfügung stellen, weil sie je nach Bedarf sehr kurzfristig ein- und ausgeschaltet werden können. Diese Option hat jedoch den Nachteil, dass weiterhin Treibhausgasemissionen entstehen. Dennoch hat sich der Bundesrat letzte Woche für diese Option entschieden. Angesichts der ambitionierten Ziele zur Senkung der Treibhausgasemissionen kann dies jedoch nur eine Zwischenlösung sein. Andererseits hält Andreas Pautz, Professor für Nuklearingenieurwesen und Reaktorphysik an der ETH Lausanne und dem Paul Scherrer Institut, einen ausreichend schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien für extrem ambitioniert: «Der Ausbau der Speicherkapazitäten ist teuer und beansprucht ausserdem viel Zeit.» Solange europaweit diese Speicherkapazitäten fehlen, können Sonne und Wind die Versorgungssicherheit noch nicht garantieren.

Ist die Kernenergie also der Ausweg? Wohl eher nicht. Denn den Trumpf, den Gaskraftwerke besitzen – der schnelle und flexible Einsatz – können Atommeiler nicht ausspielen: Damit sie rentabel laufen, müssen sie möglichst konstant Strom liefern. Idealerweise produzieren sie rund um die Uhr Strom und stellen dem Netz eine Grundkapazität zur Verfügung. Man spricht auch von Bandenergie, im Gegensatz zu der sogenannten Spitzenenergie, die je nach Bedarf abgerufen werden kann, wie es bei Gas- und Wasserkraftwerken durch schnelles Ein- und Ausschalten möglich ist. Dass Kernkraftwerke nur unter Volllast laufen können, sei ein weit verbreitetes Missverständnis, bemerkt Pautz: Im oberen Lastbereich liessen sich Reaktoren innerhalb einer Minute regulieren. So könnte ein Kraftwerk wie Gösgen kurzfristig von neunzig auf hundert Prozent hochgefahren werden, was einen beachtlichen Leistungsunterschied von 100 Megawatt ausmacht. Solange genügend Kapazitäten bestehen, bleibt Wasserkraft jedoch ein effizienteres Regelinstrument, da der Betrieb von Kernkraftwerken unter Vollast am wirtschaftlichsten ist.

Doch Kernkraftwerke bringen noch ein weiteres Problem mit sich. Darauf nimmt die Prognose des Bundes Bezug, nach der die Schweiz im Winter 2025 in einen Strom-Engpass geraten könnte: Das Szenario geht davon aus, dass die Reaktoren Beznau 1 und 2 und gleichzeitig dreissig Prozent der französischen Reaktoren ausfallen. Dieses Worst-Case-Szenario ist zwar sehr unwahrscheinlich, Tatsache ist aber: Wenn ein Atomkraftwerk unerwartet vom Netz genommen werden muss, bricht auf einen Schlag eine grosse Strommenge weg. Daher schlussfolgert Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung SES: «Was die Versorgungssicherheit betrifft, ist Atomkraft an sich ein Risiko.»

Bauzeit für AKW sehr ungewiss

Befürwortende Stimmen zur Atomenergie halten dem entgegen, dass das Risiko eines Ausfalls umso geringer ist, je mehr solche Kraftwerke man baut. Doch selbst, wenn die Schweiz sich für den Bau auch nur eines neuen Reaktors entscheiden würde – es bleiben grosse Fragezeichen. Denn der Bau eines neuen Kernkraftwerks ist mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. ETH-Nuklearforscher Pautz schätzt unter optimalen politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen mindestens vier Jahre Planungszeit und noch einmal fünf bis sechs Jahre für den Bau einer grossen Anlage. Dies hält SES-Kernkraftexperte Lüscher jedoch für zu optimistisch: «Schon für die reine Bauzeit sind zehn Jahre gemessen an heutigen Projekten sehr optimistisch», bestätigt er zwar, «doch in der Schweiz gilt derzeit ein gesetzliches Neubauverbot. Dieses müsste zuerst politisch gekippt werden.» Für den politischen Prozess, in dem eine Volksabstimmung unausweichlich wäre, hält Lüscher einen Zeitrahmen von zehn Jahren für realistischer. Und das bloss für die Planung.

Auch bei der darauf folgenden Bauphase sieht Lüscher grosse Fragezeichen. Die Reaktorhersteller halten zwar vier Jahre für realistisch – doch der Blick nach Finnland und Frankreich zeigt ein anderes Bild: Dort sind gegenwärtig sogenannte Druckwasser-Reaktoren vom Typ European Pressurized Reactor EPR im Bau, die in Frankreich entwickelt werden. Sollte die Schweiz einen neuen Reaktor bauen wollen, wäre die französische Technologie naheliegend. Der Bau dieser neuesten Reaktoren ist aber immer wieder von Verzögerungen geprägt. So ist der Reaktor Flamanville 3 in Frankreich seit 2007 im Bau – derzeit wird die Fertigstellung im Jahr 2023 angestrebt. Auch am finnischen Reaktor wurde 15 Jahre gebaut – nun steht er kurz vor der Netzeinspeisung.

«Die lange Bauzeit dieser Reaktoren ist gleich mehreren Faktoren geschuldet», erklärt Pautz: «dem Knowhow-Verlust bei den Herstellern, die seit Jahrzehnten keine Anlagen mehr fertiggestellt haben, Designanpassungen während des Baus bedingt durch Unklarheiten bei den regulatorischen Anforderungen, und massive Probleme in den lokalen Lieferketten. Doch die Verzögerungen in Europa sind keine Einzelfälle: Mindestens 31 von 53 der weltweit im Bau befindlichen Kernkraftreaktoren waren Mitte 2021 im Verzug. Darum hält Lüscher eine Bauzeit von weniger als zehn Jahren für unrealistisch. Somit machen politischer Vorlauf, Planung und Bau zusammengenommen die Inbetriebnahme eines Schweizer Reaktors vor 2040 unwahrscheinlich – und somit verspricht die Kernkraft also ebenfalls keinen schnellen Ausweg aus dem Energieproblem.

Kosten schwierig vorauszusagen

Eng verknüpft mit den Unsicherheiten bei der Bauzeit ist auch die Frage nach dem Preis für ein neues Kraftwerk. Im Vergleich zu Gaskraftwerken sind die anfänglichen Investitionskosten bei Atomkraftwerken deutlich höher, da der Bau deutlich aufwändiger ist. Dafür sind die Betriebskosten bei der Atomkraft geringer, da das notwendige Brennmaterial deutlich weniger kostet. Insgesamt steht und fällt der resultierende Preis für Nuklearstrom mit den Baukosten für ein neues Werk. «Wenn Atomkraft mit den fossilen Energien konkurrieren will», so rechnet Pautz, «wäre ein Preis von mehr als fünf Millionen Franken pro Megawatt Leistung nicht vertretbar.» Also dürfte eine neue 1600-Megawatt-Anlage, wie sie derzeit in Finnland entsteht, höchstens acht Milliarden Franken kosten. Fragt man die Reaktorhersteller, ist ein solcher Kostenrahmen realistisch. Hingegen hält Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung dies für «nichts anderes als Marketing».

Tatsächlich sind die neuen europäischen Reaktoren von einem wirtschaftlichen Preis weit entfernt. Denn mit der Bauverzögerung ging eine Kostenexplosion einher. Die Kosten für den Reaktor Olkiluoto-3 in Finnland mit 1600 Megawatt belaufen sich mittlerweile auf elf Milliarden Euro.

Die ungefähr gleich starke Anlage Flamanville-3 in Frankreich wird bei seiner Fertigstellung sogar rund 19 Milliarden Euro kosten – budgetiert waren 3,2 Milliarden Euro. Ein derartiger Reaktor würde zwar mehr als ein Fünftel des schweizerischen Energiebedarfs decken – trotzdem ist fraglich, ob die enormen Kosten einen solchen Bau rechtfertigen würden.

Auch der Blick über Europa hinaus zeigt kein anderes Bild: Weltweit kann kaum ein Kernkraftprojekt den geplanten zeitlichen und preislichen Rahmen einhalten. Das gilt selbst für Länder wie Russland oder die Vereinigten Arabischen Emirate, in denen deutlich weniger Vorbehalte und politische Opposition gegenüber Kernkraft vorhanden sind.

Selbst Energiekonzerne gegen Atomkraft

Auch wenn gegenwärtig politische Stimmen, vor allem aus den Reihen der SVP und der FDP, ein neues Atomkraftwerk für die Schweiz fordern: Nicht einmal die Energiekonzerne halten aktuell viel von der Atomkraft. So schloss Axpo-Chef Christoph Brand im Gespräch mit CH-Media den Bau eines neuen Reaktors aus. Denn im Vergleich zu den erneuerbaren Energien, deren Preise weiterhin sinken, lohnt sich auch nach Einschätzung der Axpo die Investition für ein Kernkraftwerk nicht.

«Wir müssen bei der Energiewende noch viel schneller vorwärts kommen.»Fabian Lüscher, Schweizerische Energiestiftung

Für die Probleme, die die Energiewende mit sich bringt, gibt es keine einfache Lösung. Dass da die Debatte um Kernkraft wieder aufs Parkett kommt, überrascht den Kernkraftexperten Pautz nicht. «Wir sind nicht mehr in der Position, auf irgendeine Form der Energieerzeugung verzichten zu können; selbst mit allen CO2-armen Optionen wird es enorm schwierig werden, die Klimaziele zu erreichen.»

«Wir müssen bei der Energiewende noch viel schneller vorwärts kommen», gesteht der Kernkraftgegner Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung ein, «aber AKW werden dazu keinen Beitrag leisten können.» Während die Schweiz mit ihren Speicherstauseen in einer privilegierten Lage ist, müsse europaweit noch viel passieren, um die Speicherkapazitäten zu schaffen, die die Energiewende benötigt, sind sich beide Experten einig. Das Potenzial der erneuerbaren Energien ist vorhanden – «die Frage ist nur, wie man dieses Potential ausschöpft», sagt Lüscher.

Vorerst wird es also wohl nicht zu einer Renaissance der Nuklearenergie kommen. Welche Antworten die Politik mittelfristig auf die Herausforderungen der Energiewende findet, bleibt offen.

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