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Ein Leser schrieb mir, er kenne mehr Leute, die sich wegen der Shutdown-Massnahmen umgebracht hätten als solche, die an Covid-19 gestorben seien. Sagen will er damit, dass die Massnahmen gegen die Pandemie schädlicher seien als die Krankheit selbst. Das entspricht dem Narrativ der Massnahmen-Kritiker. Vor allem aber ist es ein skandalöser Missbrauch von Suizidopfern zu politischen Zwecken.

Als ich zurückfragte, wie viele Suizid-Fälle der Mann denn kenne, meinte er: ein Freund hätte sich das Leben genommen und im Abschiedsbrief die übertriebenen Pandemie-Massnahmen genannt. Natürlich will ich in keinster Weise einen Suizid verharmlosen, und ich habe dem Mann auch mein ehrliches Mitgefühl ausgesprochen.

Aber wenn Massnahmenkritiker mit Suiziden argumentieren, müssen sich die Frage gefallen lassen: Erfolgte der Suizid wegen Massnahmen oder mit Massnahmen? Denn sie stellen diese Frage ja immer noch bei den über 10 000 Covid-19-Toten, die die Schweiz mittlerweile zählt.

War also der Verstorbene schon vor der Pandemie depressiv, lebensmüde? Diese Frage muss sich zum Beispiel die Aktion «Mass voll» gefallen lassen, da sie – ich sage es nochmals – Suizide jetzt für ihre politischen Absichten missbraucht.

Lückenhafte Zitate verändern die Aussage

Missbraucht haben sie auch Markus Landolt, den Leitenden Psychologen im Universitäts-Kinderspital Zürich. Er hat kürzlich in der NZZ am Sonntag publik gemacht, dass sich in seinem Spital im Jahr der Pandemie die Zahl der Kinder nach Suizidversuch mehr als verdoppelt hat. Von 22 im Jahr 2019 auf 47 in 2020. Der Anstieg hat mit dem Ausbruch der Pandemie begonnen, wo sonst die Suizidversuche Jugendlicher mehr oder weniger gleichmässig über das Jahr verteilt sind. Und der Trend hält im ersten Quartal 2021 an. Darum sehen die Forschenden einen Zusammenhang zur Pandemie. Das ist besorgniserregend.

Und plötzlich wird Professor Landolt als Kronzeuge gehandelt, der die Schädlichkeit der Pandemie-Massnahmen belegt. Ich habe bei Markus Landolt nachgefragt. «Mass voll» zitiert ihn schamlos falsch. Man nennt zwar die Zahlen, aber unterschlägt, was er zu den Massnahmen gesagt hat. «Strenge Massnahmen sind sinnvoll. Sie helfen die Pandemie zu verkürzen und verkürzen somit auch die psychisch schwierige Lage der Kinder.»

Nehmen sich in der Pandemie mehr Leute das Leben?

Fakt ist: Es gibt eine aktuelle Studie, die wir auf higgs schon genauer vorgestellt haben, die in keinem Land und keiner Region eine Zunahme der vollendeten Suizide findet, in zwölf Ländern und Regionen sogar eine Abnahme. Auch in Frankreich ist das Ergebnis für die erste Lockdown-Phase dasselbe: Keine Zunahme von Suiziden. Ebenso in Norwegen: in den ersten drei Monaten der Pandemie kein Anstieg an Suiziden – und kein überproportionaler Effekt bei Jüngeren.

Allerdings haben diese Studien einen Mangel: Sie decken erst die Zeit der ersten Welle ab. Die Belastung durch die zweite Welle war grösser und psychische Effekte können verzögert auftreten.

Zwar werden vollendete Suizide gesamtschweizerisch erfasst, aber auch dies mit einer erheblichen Zeitverzögerung. Für Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen gibt es kein zentrales Register. Einzelne Kliniken erfassen die Zahlen besser, andere gar nicht. Die Wissenschaft weiss also momentan nicht, ob die Pandemie mehr Suizide zur Folge hat. Und das ist fast so störend, wie wenn Gruppierungen mit lückenhaften Zahlen oder Einzelschicksalen Politik betreiben.

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Suizid wegen Massnahmen oder wegen Virus-Angst?

Und selbst wenn wir die genauen Zahlen hätten. Ungeklärt wäre, ob der Grund für versuchte Suizide die Massnahmen oder das Virus sind. «Kinder haben Stress wegen der Massnahmen», sagt Markus Landolt vom Universitäts-Kinderspital Zürich. «Aber sie haben auch Angst um Eltern, Grosseltern. Oder schlicht vor der Krankheit.»

Bei der Suche nach den Gründen stellt sich auch eine Frage, die im ersten Moment absurd scheinen mag: Ist Suizid ansteckend?

Suizid als Folge der Berichterstattung?

Haben während der Pandemie Menschen vermehrt Suizidabsichten, weil jetzt in den Medien gehäuft darüber berichtet wird?
Die Antwort mag überraschen: Teilweise ja.

In der Sozialpsychologie kennt man den sogenannten «Werther-Effekt». Benannt nach dem berühmten Werk von Johann Wolfgang von Goethe, «Die Leiden des jungen Werther». In dem Buch wird die Verzweiflung eines jungen Mannes beschreiben, der sich schliesslich das Leben nimmt. Und offenbar haben nach der Publikation gehäuft junge Menschen Suizid begangen.

Einen ähnlichen Effekt zeigte sich 1981. Nach der ZDF-Fernsehserie «Tod eines Schülers» haben sich gehäuft junge Menschen vor den Zug geworfen. Die Eisenbahnsuizide unter 15- bis 19-Jährigen nahm in der Zeit während und fünf Wochen nach der Ausstrahlung der Serie im Vergleich zu den Jahren davor und danach bei Männern um 175 Prozent zu. Bei Frauen um 167 Prozent. Bei Männern im Alter über vierzig und Frauen über dreissig Jahren wurde dagegen kein Effekt festgestellt.

Dies – so die Erkenntnis der Sozialpsychologie – zeigt, dass es bei der Nachahmung von Selbsttötungen eine Rolle spielt, ob sich Menschen mit den Verstorbenen identifizieren können. Und dies führt zu der dringenden Empfehlung der Fachleute: Suizid soll nicht tabuisiert werden, aber die Berichterstattung darf nicht personalisiert sein. Damit sich kein Mensch mit dem Schicksal des anderen identifizieren und damit zur gleichen unglücklichen Lösung kommt.

Sachliche Berichterstattung, so Landolt, führt nicht zu einem Nachahmungseffekt. Oder anders gesagt: Bloss, weil man über Depression spricht, wird niemand depressiv.

Dem schiebe ich aus meiner Warte nach: keine Personalisierung, dafür ein sauberer wissenschaftlicher und statistischer Umgang mit Suizid – und vor allem: keine Politisierung.

Brauchst du Hilfe?

Jede und jeder kann aus dem psychischen Gleichgewicht geraten – in der gegenwärtigen Pandemie sowieso. Hier findest du Adressen für psychologische Hilfe sowie Tipps für den Alltag.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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