Das musst du wissen

  • Während des Lockdowns erliess der Bundesrat Verordnungen, die in die Kategorie «Notrecht» fallen.
  • Der Zweck des Notrechts ist, dass eine Regierung im Notfall schnell und uneingeschränkt handeln kann.
  • Die Digitalisierung könnte es ermöglichen, das Notrechtsdilemma teilweise zu lösen.

Während des Zweiten Weltkrieges hob der Bundesrat die Meinungsfreiheit auf, entzog mit Ausländern verheirateten Schweizerinnen das Bürgerrecht und verbot Fleisch am Freitag. Die Regierung handelte ausserhalb der Verfassung in einem juristischen Parallel-Universum, dem extrakonstitutionellen Notrecht. Dieses erlaubte dem Bundesrat jegliche Massnahmen, um das Volk und die Demokratie vor dem Feind zu verteidigen. Das Problem: Diese Massnahmen sind dieselben, die zur Zerstörung von Volk und Demokratie genutzt werden können, nämlich diktatorische Vollmachten.

Corona rückte diese Gefahr wieder ins kollektive Bewusstsein. Während des Lockdowns erliess der Bundesrat Verordnungen, die teilweise über seine ordentlichen Kompetenzen hinausgingen und somit in die Kategorie «Notrecht» fallen. Dieses Mal gaben ihm das Epidemiengesetz und Artikel 185 der Verfassung jedoch quasi das Recht dazu. Alle Verordnungen waren und sind befristet. Das Parlament konnte nach relativ kurzer Zeit seine Arbeit wieder aufnehmen. Von Diktatur kann also keine Rede sein. Juristen sprechen in diesem Fall von intrakonstitutionellem Notrecht, wobei der Unterschied zum Vollmachtsregime fliessend ist.

Was vom Lockdown in Erinnerung bleibt, sind nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten zu früheren Krisen. Epidemiengesetz hin oder her, das Türchen zum Notrecht stand immer offen und der Bundesrat hätte es wahrscheinlich wie fast alle Regierungen dieser Welt sowieso betreten. Dass er dieses Mal nicht so weit ging wie vor 80 Jahren, lag daran, dass die Lage weniger bedrohlich war. Was das grundsätzliche Notrechtsdilemma betrifft, sind wir heute jedoch so weit wie damals.

Ist so, weil ist so?

Doch wieso genau braucht ein Staat das Notrecht, um Krieg zu überstehen oder eine Pandemie zu bekämpfen? Mussten wir wirklich auf unsere demokratischen Rechte verzichten, um uns vor dem Virus zu schützen? Diese Fragen sind entscheidend, denn die Schwelle zum Notrecht bestimmt den Preis der Freiheit. Anders formuliert: Nur wenn der Ausnahmezustand die Ausnahme ist, ist die Demokratie die Regel.

Die Begründung für Notrecht ist so banal, dass sie dem spitzfindigen Juristen zutiefst widerstrebt: Eine Regierung muss schnell und uneingeschränkt handeln können, weil es manchmal nicht anders geht. Die Legislative hätte nicht schnell genug entscheiden können und es gab kurzfristig keine Räumlichkeiten, in denen das Parlament ohne Ansteckungsgefahr hätte tagen können. Das Volk zu befragen, hätte noch länger gedauert.

Die Faktoren Zeit und Ort sind in den meisten Ausnahmeszenarien ausschlaggebend dafür, dass die demokratischen Prozesse nicht mehr funktionieren. Auch im zweiten Weltkrieg wäre es zu gefährlich und zu schwerfällig gewesen, die gesamte Schweizer Legislative unter einer Kuppel zu versammeln. Die Schwelle zum Notrecht wird also massgeblich davon beeinflusst, ob und wie schnell das Parlament arbeitet. Faktisch kommt Notrecht dann zum Einsatz, wenn der Staat schneller handeln muss, als die Legislative entscheiden kann.

Der Ausweg aus dem Dilemma

Wenn das Parlament die Möglichkeit hätte, im Notfall schneller zu entscheiden und sich überall zu versammeln, würde die Schwelle zum Notrecht höher und die Demokratie beständiger. Corona hat gezeigt, wie vergänglich die Normalität ist. Die Krise hat aber auch offenbart, wie schnell und ortsunabhängig man mit digitalen Mitteln viele Menschen versammeln kann. Die Digitalisierung ermöglicht es erstmals in der Geschichte, das Notrechtsdilemma teilweise zu lösen.

E-Voting war einmal im Trend, doch als selbst die progressivsten Jungpolitikerinnen Alarm schlugen und vor der Fehler- und Missbrauchsanfälligkeit des Systems warnten, verschwand die digitale Alternative zur Urnen- und Briefwahl von der Bildfläche. Im Normalzustand ist es richtig, auf Papier und Präsenz zu setzen. Doch in Ausnahmezuständen wäre es vernünftig, die Risiken der digitalen Demokratie in Kauf zu nehmen, weil die Risiken keiner Demokratie viel grösser sind.

Die Online-Kuppel

Der demokratische Prozess wird häufig in zwei Teile gegliedert. Am Anfang eines neuen Gesetzes steht der deliberative Prozess, die Entscheidungsfindung. Dazu gehören Debatten im Bundeshaus und in der Arena genauso wie Diskussionen am Stammtisch. Wenn diese Orte schliessen, braucht es sichere, digitale Räume, in denen sich mindestens die Volksvertreterinnen versammeln können. Jede Kommission, Fraktion und natürlich National- und Ständerat sollten im Notfall auf einen sicheren Online-Meetingraum ausweichen können, der parallel zum Bundeshaus existiert.

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Zweitens folgt der Entscheidungsprozess. Dieser Teil ist das kleinere Problem, denn online Stimmabgabe und -auszählung könnten auf der Basis bestehender E-Voting Systeme konstruiert werden. Sowieso braucht Abstimmen wenig Zeit. Die Schwierigkeit ist nicht, den Parlamentariern in Krisensituationen eine Möglichkeit zu geben, ihre Meinung auszudrücken. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, sie gemeinsam in eine Position zu bringen, aus der sie sich eine unabhängige Meinung bilden und die Regierung im Namen des Volkes in Schach halten können.

So sähe denn auch die Rolle des Parlaments in einer zukünftigen Krise aus. Zeichnet sich ein Ausnahmezustand ab, während dem man das Bundeshaus nicht nutzen kann, wechselt die Legislative vom Offline- in den Online-Modus. Die Politikerinnen gehen nach Hause und arbeiten aus dem Home Office. Sie tagen täglich im Netz, beobachten und beraten in einer Aufsichtsfunktion, erteilen Vorschläge und intervenieren im Notfall rechtlich bindend. Das Parlament könnte ausgleichend wirken und wäre nicht von einem Tag auf den andern ausser Gefecht.

Du und ich

Nur das Parlament zu befähigen, reicht aber nicht, um die Demokratie wirklich zu stärken. Denn genau wie der Bundesrat können auch die Volksvertreterinnen Notrecht erlassen und die demokratischen Mitwirkungsprozesse umgehen. Im äussersten Fall kann nur eine Instanz die Volksherrschaft schützen, nämlich das Volk selbst.

Ausnahmezustände erschweren das Lancieren von Volksinitiativen deutlich. Unterschriften zu sammeln ist während Corona riskanter, aufwendiger und teurer. Deshalb könnte E-Collecting, also elektronisches Unterschriftensammeln, unter der Online-Kuppel seinen Platz finden und in Notfällen zum Einsatz kommen. Alle Schweizerinnen und Schweizer sollten während Krisen, in geringerem Masse und auf anderer Ebene, dieselbe Funktion einnehmen wie das Parlament.

Den Bund erneuern

Mit dem Covid-19 Gesetz stützen sich die Massnahmen des Bundesrates auf eine gesetzliche Grundlage. Doch neuerliches Notrecht ist so nah, wie die Pandemie stark ist. Auch das Ende dieser Krise wird das Notrechts-Türchen nicht schliessen. Nur der Mut, neue Mittel zu nutzen, kann das erreichen und verhindern, dass wir uns je in einer Situation wiederfinden, wie sie unsere Grosseltern erlebten. Nach dem Krieg brauchte es eine sensationelle Volksinitiative, um die bundesrätliche Diktatur 1952 zu stürzen. Die Schweizer Demokratie war vor nicht allzu langer Zeit in einem dreizehnjährigen Koma und wäre fast nicht mehr aufgewacht.

Vieles deutet darauf hin, dass es sich die Demokratie in den nächsten Jahrzehnten nicht ganz so bequem machen können wird wie in den letzten 75 Jahren, und dass Corona weder die letzte noch die schwerste Erschütterung zu Lebzeiten sein wird. Die Schweiz hat eine der direktesten Demokratien der Welt und ein ausserordentlich stabiles System, doch sollten wir keine Gelegenheit auslassen, den Bund zu erneuern.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Wissenschaft in der Corona-Krise: eine philosophische Analyse» der Schweizerischen Studienstiftung. 

Reatch

Hier bekommen unsere Kolleginnen und Kollegen von Reatch, der Ideenschmiede, Platz für ihre Beiträge. Alles dreht sich hier um die Themen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Beiträge sind von Nachwuchsforschern und Nachwuchsforscherinnen selbst geschrieben – hier seid ihr also ganz nah an der Forschung dran.
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