Die Kollegen schlossen Wetten ab, wie lange sie durchhalten würde, erzählt Ilse Mayer. 19 Jahre jung war sie damals im Februar 1954, hiess noch Fräulein Günther und wurde direkt aus der Fotografen-Lehre von der frisch gegründeten Filiale am Zürcher Seilergraben unter Vertrag genommen – als erste Fotoreporterin der Keystone Schweiz. 300 Franken Lohn erhielt sie monatlich bar in die Hand, den Fotoapparat musste sie selber stellen.

Den Tipp, sich bei Keystone zu bewerben hatte ihr die beste Freundin ihrer Mutter gegeben, Lotte Sigg, die internationale Keystone-Bilder an Schweizer Wochenblätter verkaufte. Ilse, die nichts hielt von klassischen Mann-Heim-Pelzmantel-Träumen, sondern Lust auf Leben hatte, war bereit, kiloweise Fotoausrüstung auf ihre zarte Schultern zu wuchten. Und sie rümpfte nicht die Nase, wenn beim Fotografieren eines Boxkampfs Blut und Schweiss sie bespritzten. Sie musste mit ihrer Rolleiflex nahe an den Ring, denn Teleobjektive gab es damals noch nicht.

«Ich habe mich nie als Fotografin, sondern immer als Fotoreporterin gesehen», erklärt sie, «schon in der Lehre wusste ich, dass ich für Zeitungen arbeiten will; denn da ist man mit der Nase immer ganz vorn dabei. Als Fotoreporterin sieht man Sachen, die andere nicht sehen.»

Heute steht die 80-Jährige in der Küche ihrer Penthousewohnung im Stadtzürcher Quartier Enge, kocht Kaffee und schlägt den Rahm für den selbstgebackenen Birnenkuchen. In ihrem Salon hängen «aus Prinzip» keine Fotos, stattdessen ist er dekoriert mit Kunsthandwerk, das sie auf ihren unzähligen Reisen in damals noch schwer zugängliche Länder zusammengetragen hat.

In ihren Erzählungen nimmt Ilse Mayer die Zuhörer mit auf eine Zeit- und Weltreise: aus der biederen Nachkriegsschweiz ins verheissungsvolle Bali, nach Jerusalem und Paris. Wir treffen die Schauspieler Sofia Loren und Fernandel, die Familie Mann, besuchen als erste Westler die vergessenen Völker in der Sowjetunion, bis wir nach vielen Stunden ins Hier und Jetzt zurückkehren und die Gastgeberin noch einen Espresso serviert. Was war zuerst: ihre Reiselust oder ihr Wunsch, Fotografin zu werden? «Ganz klar die Reiselust.» Diese habe sie von ihrem Vater geerbt, einem Metzgermeister, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Konservenfabrik im hintersten Flecken Litauens aufbaute. «Wenn Vater von seinen abenteuerlichen Reisen erzählte, ging jeweils das Fernweh mit mir durch.»

An ihren ersten Auftrag als Fotoreporterin erinnert sie sich, als wär es gestern gewesen: Sie sollte den Empfang Seiner Kaiserlichen Majestät Haile Selassie I., Kaiser von Äthiopien, am Zürcher Bahnhof Enge fotografieren. Am Morgen des 25. November 1954 fand sie sich zeitig auf dem mit Teppichen belegten Perron ein. Doch prompt war sie so nervös, dass sie den entscheidenden Moment verpasste. Der Monarch war schon in die verdunkelte Limousine gestiegen, die ihn zum Bankett ins Grand Hotel Dolder bringen sollte. Da sah er in der Menschenmenge die verzweifelte junge Frau mit der schweren Kamera, öffnete trotz engem Zeitplan nochmals die Autotüre – und liess sich von Mayer ablichten.

«Anpacken, nicht jammern, das Beste aus der Situation machen und daraus für sich selbst den grössten Nutzen ziehen.»Ilse Mayer

Ihre Fotos erschienen in fast allen Schweizer Zeitschriften – aber ohne ihren Namen, wie bei Agenturbildern damals üblich. «Wenn die Fotos gedruckt wurden, haben wir die Filme weggeschmissen; ich habe kaum ein Bild aufgehoben, das hat mich nicht interessiert. Das Machen ist das Tolle, das Unterwegssein.»

Im Alter von 22 lief die Weltgeschichte vor ihren Augen ab: An der Genfer Gipfelkonferenz vom Juli 1955 traf sie «The Big Four» – Eisenhower, Eden, Bulganin und Faure – die im marmorierten Völkerbundpalast an den Gestaden des Genfersees über das Schicksal der Menschheit zusammensassen. Diese Bilder brachten ihr die Anerkennung der harten Kerle von der Agentur.

«Ich behauptete mich mit Charme und guten Fotos, die in der ganzen Schweiz und im Ausland verkauft wurden», resümiert Ilse Mayer ihren schwierigen Start in der machohaften Fotografenbranche. Sie nahm es den Kollegen nie übel. Das hat gewiss auch mit ihrer Art zu tun. «Anpacken, nicht jammern, das Beste aus der Situation machen und für sich selbst den grössten Nutzen daraus ziehen», sagt sie. «Mir ist es lieber, dass ich etwas selber mache. Ich warte nicht, bis mir etwas angeboten wird.»

Mayer war nicht nur die erste und einzige Reporterin in der Branche, sie war auch oft die einzige Berufsfrau an den Anlässen, die sie fotografieren sollte: am Atommanöver, welches den Schweizer Soldaten einen Eindruck von dem vermitteln sollte, was ein Atomkrieg für die Schweiz bedeuten würde oder an Autorennen mit Joe Siffert, die sie dazu inspirierten, selbst eine Lizenz auf der Pariser Rennstrecke zu machen.

Während eines Pferderennens lernte sie den Fotografen Fred Mayer kennen und heiratete ihn bald. Hochzeitsfotos gibt es keine. «Weil der Fotograf nicht gekommen ist», erklärt Mayer. Das Paar bekam eine Tochter, «obwohl ich ganz und gar kein Mami-Typ bin, eher die beste Freundin». Gleichzeitig machten sich die beiden selbständig – «mit nur zwei Fotokameras, einem Vergrösserungsapparat und 60 Franken in bar», so die Pionierin. Aufträge erhielt Ilse Mayer als Freiberufliche nur von Frauenzeitschriften wie Annabelle und Femina. Dabei machte die finanzielle Not sie erfinderisch. Sie kombinierte Mode- mit Reisereportagen und fotografierte Models vor Sehenswürdigkeiten. Die Models waren gewöhnliche Einheimische. «Ich hasse diesen steifen Mode- und Modelmumpitz und wollte es immer so natürlich wie möglich.» Ihre Innovation wurde bald zum Trend.

Sie selbst sagt: «Ich mache die Leute nicht schöner, dafür interessanter.» Viele Fotografen inszenierten, um sich einen Namen zu machen. Sie hingegen habe sich einen Namen gemacht, weil sie gerade nicht inszenierte. «Ich bin Realistin», sagt sie. Und sie kämpfte für ihre Bilder. Sie umging Verbote, verkleidete sich als Mann, um im Tross der Tour de Suisse fotografieren zu können. Doch sie knipste nie heimlich, nur eben unaufdringlich und mit Respekt. Von Menschen in äusserster Not oder Sterbenden hätte sie nie Aufnahmen gemacht. Die Grenzüberschreitung, einem Menschen sein Bild zu entreissen, sei ihre Sache nicht. «Das würde mich beschämen. Ich kann und will das Elend nicht fotografieren. Damit hätte ich den Armen noch den letzten Rest Würde genommen.»

Dabei ist Ilse Mayer keineswegs zimperlich. Mit ihrem Mann, der als einer der ganz wenigen Schweizer Fotografen für die renommierte Agentur Magnum arbeitet, bereiste sie den Globus, hauste mit Kakerlaken in den Elendshütten der indigenen Völker am Ende der Welt. Sie ernährte sich tagelang von Beutelsuppen und wartete ebenso lange an einer Piste im Nirgendwo, bis sie ein Helikopter abholte. «Wir Fotografen sind doch alle verrückt», sagt sie und lacht.

Ihre Fähigkeit, die Menschen auf der Strasse, im Urwald, in der Taiga einnehmend anzusprechen, ermöglichte unnachahmliche Momentaufnahmen einer unwiederbringlichen Zeit.

Fred und Ilse Mayer haben gemeinsam rund dreissig Bildbände veröffentlicht. Viele davon gehörten wie das Fondue-Caquelon zum Inventar eines jeden richtigen Schweizer Haushaltes: Die Bücher konnten mit Silva- und Mondo-Märkli auf Lebensmitteln erstanden werden und öffneten den Blick auf fremde Kulturen, in Zeiten als die Schweizer nicht weiter als Rimini reisten. Ihr aktuellstes gemeinsames Projekt ist «Siddhartha», eine Reise durch Hermann Hesses Indien. Ilse Mayer könnte aufhören. Aber sie hat noch viele Pläne. «Ich hatte und habe noch immer ein richtig lässiges Leben.» Prall gefüllt mit Licht, Farbe und Abenteuer.

Dieses Porträt stammt aus dem Buch «Zürcher Pioniergeist» (2014). Es porträtiert 60 Zürcherinnen und Zürcher, die mit Ideen und Initiative Neues wagten und so Innovationen schufen. Das Buch kann hier bestellt werden.
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