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Die Spanische Grippe von 1918–19 war die schlimmste Epidemie, die die Schweiz in der Neuzeit durchlebt hat. Binnen eines Jahres starben rund 25 000 Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von damals rund vier Millionen. Die Grippe-Pandemie vor gut hundert Jahren verlief sehr ähnlich wie die Corona-Pandemie von heute. Sowohl epidemiologisch, mit einer kleinen ersten und einer wesentlich heftigeren zweiten Welle. Aber auch in den Köpfen der Menschen lief dasselbe ab.

Ich möchte das heute nicht mit wissenschaftlichen Untersuchungen, Statistiken und Zahlen zeigen, sondern anhand eines Gedichts. Erschienen ist es vor hundert Jahren in der Satirezeitschrift Nebelspalter (No. 10 v. 06.03.1920).

Die Grippe und die Menschen

Als Würger zieht im Land herum
Mit Trommel und mit Hippe,
Mit schauerlichem Bum, bum, bumm,
Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein
Und schneidet volle Garben –
Viel rosenrote Jungfräulein
Und kecke Burschen starben.

Mit «Hippe» ist die Sense gemeint. Und das Ganze ergibt das Bild des Totentanzes, der durch die Lande zieht und bis zum Schluss weltweit gegen 50 Millionen Tote fordern wird. Es gab kaum einen Haushalt, in dem nicht ein Opfer zu beklagen war. Kein Wunder war die Bevölkerung in Angst und Schrecken.

Es schrie das Volk in seiner Not
Laut auf zu den Behörden:
„Was wartet ihr? Schützt uns vorm Tod –
Was soll aus uns noch werden?

Ihr habt die Macht und auch die Pflicht –
Nun zeiget eure Grütze –
Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht,
Zu was seid ihr sonst nütze!

S’ist ein Skandal, wie man es treibt,
Wo bleiben die Verbote –
Man singt und tanzt, juheit und kneipt,
Gibt’s nicht genug schon Tote?“

Die Bevölkerung ist es also, die nach Schutz verlangt. Und sich auch beklagt, dass noch getanzt wird – wir erinnern uns an die Clubs, deren Schliessung in der ersten Welle gefordert wurde. Oder dass noch «gekneipt» wird, also gebadet. Und das erinnert an die Diskussion darüber, ob Fitnessclubs geschlossen werden sollen.

Damals wie heute hat die Seuche die Welt auf dem falschen Fuss erwischt. Und obschon wir heute viel mehr über Virologie, Epidemiologie und Infektiologie wissen, mussten auch wir einfach mal Massnahmen ergreifen, um so in einem gewissen Sinne auch nach dem Prinzip «Trial and Error» herauszufinden, was am effektivsten ist. Clubs schliessen, Fitnesszentren schliessen, Schulen schliessen?

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Bald hat es, schwer und ungewohnt,
Verbote nur so geregnet.

Während der Spanischen Grippe wurden Versammlungen jeder Art verboten. Auch religiöse Veranstaltungen und Feste. Restaurants und Kinos (damals noch Lichtspieltheater genannt) geschlossen – an vielen Orten auch die Schulen. Kommt uns alles ziemlich bekannt vor.

Prompt flaute die erste Welle ab. Und prompt begann das Volk, heftig gegen die staatlichen Massnahmen zu stänkern. Pfarrer protestierten, junge Leute maulten, weil ihnen die Schliessung der Gaststätten, Tanzsäle und Kinos allmählich auf die Nerven ging.

„Regierung, he! Bist du verrückt –
Was soll dies alles heissen?
Was soll der Krimskrams, der uns drückt,
Ihr Weisesten der Weisen?

Sind wir denn bloss zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zu Fasnachtszeit – ha!“
So gröhlt und tobt die Meute.

„Die Kirche mögt verbieten Ihr,
Das Singen und das Beten –
Betreffs des andern lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten!

Auch das genau wie heute. Die Kirche könnt ihr schliessen, aber nicht das Feiern verbieten. Die Kirche sieht das natürlich anders. Kurz gesagt: Alle finden, die anderen sollen, aber nicht ich.

Das war es nicht, was wir gewollt,
Gebt frei das Tanzen, Saufen,
Sonst kommt das Volk – hört, wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!“

Schon damals gab es also die Querdenker. Die wilden Haufen, die protestierend durch die Stadt ziehen. Wer denkt da nicht an die Anti-Corona-Massnahmen-Demos? Und wer hat schliesslich profitiert?

Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, sie blinzelt leise
Und spricht: „Na, endlich – also doch!“
Und lacht auf häm’sche Weise.

„Ja, ja – sie bleibt doch immer gleich
Die alte Menschensippe!“
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs Neu die Hippe.

Das Resultat war damals dasselbe wie heute: die zweite Welle. Aktuell wäre es dann wohl die dritte Welle. Wenn wir also schon nicht auf die Wissenschaft hören wollen, so könnten wir doch aus der Literatur etwas für die Gegenwart lernen. Wenn wir nur wollten.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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