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Früher kämpften die Menschen gegen wilde Tiere, mussten Hungersnöten, der Witterung oder Seuchen widerstehen. All diese Bedrohungen sind im Verlauf der zivilisatorischen Entwicklung weggefallen. Es gibt keinen täglichen Überlebenskampf mehr, die natürliche Selektion ist weggefallen.

Dafür gewannen die Menschen etwas Neues: die Freizeit. Jetzt ist die neue Herausforderung, zu lernen, wie man mit ihr umgeht. Dies sagte vor bereits fünfzig Jahren der berühmte Schweizer Zoologe Ernst Hadorn. Und er folgerte, dass dies die Evolution des Menschen beeinflussen würde, indem künftig jene überleben, die am besten mit der Freizeit umgehen können.

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Über diese Gedanken habe ich mich kürzlich mit Daniel Schümperli unterhalten – emeritierter Professor für Zellbiologie an der Universität Bern, der Anfang der Siebzigerjahre bei Ernst Hadorn in der Vorlesung sass. Schümperli sieht einen Zusammenhang zwischen dem Wegfallen der natürlichen Selektion und der Art und Weise, wie wir heute auf die Corona-Pandemie reagieren. Und warum die Einschränkungen, die sie uns auferlegt, unsere Gesellschaft so tief treffen und warum gewisse Menschen mit der Situation besser zurechtkommen als andere.

Es hat damit zu tun, dass der Mensch von heute keinen Überlebenskampf mehr gewohnt ist. Nicht nur wilde Tiere, Hungersnöte und Seuchen sind verschwunden, wir sind auch recht wohl behütet durch Altersvorsorge, Sozialwerke, Versicherungen für und gegen praktisch alles. Die Risiken des Lebens sind – zumindest in unseren Breitengraden – minimal.

So haben wir die Zeit, die früher der Überlebenskampf in Anspruch nahm, gefüllt mit Unterhaltung, Genuss und der sofortigen Befriedigung aller Wünsche.
Dann kommt Corona, die Pandemie, der Lockdown. Wir können nicht mehr in die Clubs zum Tanzen, nicht mehr Shoppen nach Belieben, und nicht mehr in die Last-Minute-Ferien.

Damit können einige Leute besser umgehen, andere scheitern daran – so wie Ernst Hadorn es vorausgesagt hat. Und der Entwicklungsbiologe Daniel Schümperli sieht hier den Hauptgrund, weshalb sich so viele Leute gegen die Vorstellung einer bedrohlichen Pandemie und gegen die Massnahmen zu ihrer Bekämpfung wehren. Die Pandemie stellt die ganze Grundlage ihres bisherigen Lebens infrage. Plötzlich stehen nicht mehr Freizeit, Genuss und die sofortige Befriedigung aller Wünsche im Vordergrund, sondern die Eindämmung eines unsichtbaren Virus. Es darf doch nicht wahr sein, dass wir in den Überlebenskampf der Vor-Freizeit-Ära zurückfallen!

Dann sieht man plötzlich nicht mehr das Virus als Gegner, sondern jene, die uns diese Massnahmen antun. So hat man immerhin einen Gegner, den man sieht, den man angreifen kann.

Kluge Köpfe in der Psychologie und der Soziologie sehen die Pandemie auch als Chance. Als Chance für Entschleunigung, für Rückbesinnung.

Ich habe da so meine Zweifel. Aber ich hoffe, dass die Pandemie uns mindestens lehrt, dass die Natur stärker ist.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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