Das musst du wissen

  • Viele Krankheiten treten heute früher im Leben auf als noch vor 25 Jahren.
  • Das führt dazu, dass die Menschen im Schnitt zwar länger leben, aber kränker sind.
  • Das liegt vor allem an Überalterung und an ungesundem Lebensstil.
Den Text vorlesen lassen:

Wer mit sechzig einen Herzinfarkt überlebt, schluckt meist bis ans Lebensende blutdrucksenkende Medikamente. Er lebt also, ist aber nicht gesund. Das nennt die Fachwelt Morbidität. Der Forscher Siegfried Geyer fragte sich angesichts dieses Phänomens: Erleben wir heute mehr unserer Lebenszeit in bester Gesundheit als früher? Oder nimmt Morbidität zu?

Deshalb sammelt der Gesundheitssoziologe von der Medizinischen Hochschule Hannover nun seit 2013 mit elf weiteren Forschenden in mehreren Projekten Daten aus Deutschland und dem internationalen Raum, um Antworten auf diese Frage zu finden. Die heutige Situation beim Lungenkrebs, bei Diabetes mellitus Typ 2 – der Zuckerkrankheit – und bei Herzinfarkten haben sie bis dato analysiert. Und: Es sieht nicht gut aus.

Herzinfarkt und Diabetes treten früher auf

«Beim Lungenkrebs ist der Trend noch positiv. Die Leute rauchen weniger; sie bekommen weniger Lungenkrebs. Und wenn sie erkranken, können sie heute länger leben», sagt Geyer. Aber schon beim Herzinfarkt irritierte ihn etwas: Bei den Älteren über sechzig Jahren konnte er zeigen, dass sie zwar weniger unter den Folgen eines Herzinfarktes litten als noch vor Jahren.

Aber in der Altersgruppe zwischen 45 und sechzig nehmen Herzinfarkte zum Beispiel in Deutschland zu und führen zu vielen Lebensjahren mit vorgeschädigtem oder geschwächtem Herzen. «Diese Menschen haben dann Jahrzehnte in kränklichem Zustand vor sich», sagt Geyer. Gerade bei der mittleren Generation dehnt sich also die Morbidität in Bezug auf Herzinfarkte aus.

Noch düsterer wurde das Bild, als der Gesundheitsökonom sich dem Diabetes zuwandte. «Immer mehr Menschen erkranken an der Zuckerkrankheit – und zwar leider immer früher», sagt er. «Und entgegen der Erwartung nehmen die gefährlichen Folgen von Nierenversagen über Herzleiden bis zum diabetischen Fuss trotz Medikamenten nicht wirklich ab.» Denn: Wenn Menschen früher erkranken, sind sie folglich länger krank und sammeln mehr Folgeleiden an. Verglichen mit den heutigen Senioren sind 25 Jahre jüngere Menschen also kränker – jedenfalls mit Blick auf Diabetes und Herzinfarkte.

Immer mehr chronisch Kranke

Geyers Erkenntnisse sind in weiten Teilen noch unveröffentlicht. Sie sind aber nur weitere Puzzleteile eines Bildes, in dem sich ein drohendes Phänomen abzeichnet: der Niedergang der Vitalität moderner Zivilisationen. Es gibt auch andere Anzeichen. So sind immer mehr Menschen chronisch krank. Dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zufolge ist das gegenwärtig rund ein Viertel der Bewohner der Schweiz. Einem WHO-Bericht zufolge ist das die zentrale Herausforderung für das Gesundheitswesen hierzulande.

Und die Gesundheit generell nimmt ab. Das US-Beratungsunternehmen Moody`s Analytics analysierte die Daten zur Gesundheit der Millennials, also der Jahrgänge 1981 bis 1996, in den USA und kam zu einem alarmierenden Befund: Die Gesundheit dieser Generation ist schlechter als jene der Generation X, also jenen, die zwischen 1965 und 1980 geboren sind.

Science-Check ✓

Studie: The Economic Consequences of Millennial HealthKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDer Bericht analysiert Daten von 41 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner, welche bei einer Krankenkasse versichert sind, die zum Branchenverband Blue Cross Blue Shield gehört. Der Bericht könnte also interessenbezogene Verzerrungen enthalten. Auch bezieht er sich explizit auf Amerikaner und ist nicht von Fachkollegen begutachtet worden. Die Resultate sind mit grosser Vorsicht zu betrachten.Mehr Infos zu dieser Studie...

Und die Gesundheit schwindet auch schneller als jene der älteren Jahrgänge. Das betrifft sowohl die physische Gesundheit, etwa bezüglich Bluthochdruck, als auch die psychische Verfassung, etwa mit mehr Depressionen. Ohne Gegenmassnahmen könne die Sterblichkeit der Millennials im Alter von 35 Jahren vierzig Prozent höher liegen als jene Vorgängergeneration, warnt Moody`s Analytics.

In den USA steigt die Lebenserwartung denn seit 2015 auch nicht mehr. «Das sind Entwicklungen, die sich auch in Kontinentaleuropa abzeichnen», sagt der Allgemeinmediziner und Sprecher des Dachverbands Salutogenese Theodor Petzold. Der Verband verfolgt das Ziel, das Gesundwerden des Menschen insgesamt zu befördern.

Ungesunder Lebensstil

Der hohe Anteil chronisch Kranker hat teils mit dem zunehmenden Alter der Bevölkerung zu tun, aber eben nicht allein. «Wir haben uns natürlich gefragt, woran es liegt, dass die Morbidität bei Diabetes und Herzinfarkten bei den Menschen in der Lebensmitte derzeit zunimmt», sagt Geyer nachdenklich. Aber generell nähme zum Beispiel auch die Zahl der Menschen mit starkem Übergewicht zu. Über die Hälfte der Erwerbstätigen in Zentraleuropa hat mittlerweile Berufe im Sitzen. Das ist fatal für das Bewegungspensum und damit die Gesundheit.

Zugleich ist der Trend zu Convenience Food, das sofort verzehrt werden kann, ungebrochen: Kekse, Eis und andere Fertigprodukte boomen. Sie sind aber fast ausnahmslos hochkalorisch – zu fettig, zu süss und zu salzig. Und insofern sei der Trend dann keine Überraschung mehr: Zu viele Pfunde sind ein wichtiger Risikofaktor für die Zuckerkrankheit, die infolge zu hoher Energiezufuhr und zu wenig Bewegung entsteht. Ebenso führt Übergewicht zu weniger gesunden Gefässe und mehr Herzinfarkten.

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Teufelskreis «Multimorbidität»

«Wir haben uns gewundert, dass die Diabetesmedikamente offensichtlich nicht die Gesundheitslast und die Folgeerkrankungen – besonders der Depressionen und Herzleiden – vermindern», sagt Geyer. Aber die moderne Medizin kann etliche Erkrankungen eben nur chronifizieren, nicht heilen. Sprich: Die Betroffenen schlucken lebenslang Medikamente, ob sie nun Diabetes, Rheuma, Schuppenflechte, Asthma, eine HIV-Infektion, Multiple Sklerose oder Bluthochdruck haben. Die Zahl der so behandelten Krankheiten wächst Jahr für Jahr, analysiert Petzold.

Das Tablettenschlucken fordert aber seinen Zoll: Medikamente haben immer Nebenwirkungen und besonders, wenn sie lebenslang eingenommen werden. Deshalb bekommt oft Osteoporose und medikamentenbedingten Diabetes, wer über Jahre Cortisontabletten schluckt. Schmerztabletten schaden auf Dauer den Nieren bis hin zum Organausfall. Und Organtransplantierte müssen ihr Immunsystem derart dämpfen, dass sie besonders anfällig für Infekte werden.

Das Phänomen der schwindenden Gesundheit wirft eine brisante Frage auf: Laufen moderne Gesellschaften in eine Chronifizierungsfalle – mit vielen Kranken und wenigen Gesunden? Ein solches Ungleichgewicht würde absehbar die Finanzierung des Gesundheitswesens nach dem Solidarprinzip aus den Angeln heben. Und es würde jene, die bereits krank sind in Krisen wie der Coronapandemie besonders bedrohen.

Wer bei schlechter Gesundheit ist, hat zudem weniger Chancen im Leben, auch in Bezug auf Beruf oder Nachwuchs. Vielmehr begünstigt eine Krankheit oft die nächste. «Multimorbidität» nennen Mediziner dieses sog-artige Ansammeln von Leiden. Sie wiederum begünstigt Armut und Suchterkrankungen. So können chronisch Kranke in einen Teufelskreis geraten. Womöglich über Generationen.

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