Das musst du wissen

  • Der Molekularbiologe Ruedi Aebersold gewinnt den Wissenschaftspreis Marcel Benoist.
  • Ruedi Aebersold zählt zu den Gründervätern der Proteomik: Er entwickelte Methoden, um Proteine zu identifizieren.
  • Denn Proteine sind es, welche eine Zelle lebendig machen. Sie sind für unzählige Prozesse im Körper verantwortlich.
Den Text vorlesen lassen:

Herr Aebersold, Sie haben den Wissenschaftspreis Marcel Benoist gewonnen. Überrascht?
Ich habe gar nicht damit gerechnet. Meine aktive Karriere ist vorbei. Ich habe meine Abschiedsvorlesung im Dezember gehalten, im März mein Labor abgegeben. Ich war in den Ferien mit meiner Frau, mit dem Camper. Da ruft mich ein Bundesamt an und am anderen Ende fragt einer, ob ich rasch Zeit hätte, der Bundesrat Parmelin wolle mit mir sprechen. Er ist ja im Stiftungsrat der Marcel Benoist Stiftung. Da habe ich mich zuerst schon gewundert.

Der Wissenschaftspreis Marcel Benoist

Zum 100. Mal wird dieses Jahr der Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist vergeben. Jährlich zeichnet die Marcel Benoist Stiftung unabhängig und hochschulübergreifend herausragende Forschung aus, die für das menschliche Leben von Bedeutung ist. Sie ehrt damit Forschende, die für die Exzellenz des Forschungsplatzes Schweiz stehen. Bisher haben elf Preisträger später den Nobelpreis erhalten. Das Nominations- und Evaluationsverfahren wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zuhanden der Marcel Benoist Stiftung durchgeführt. Der Preis 2020 wurde in den Bereichen Biologie und Medizin vergeben.

Was bedeutet dieser Preis für Sie?
Es bedeutet die Anerkennung meiner Karriere, aber vor allem auch des Forschungsgebiets. Lange war die Proteomik ein Schattengebiet. Wir wollten die Gesamtheit der Proteine im Menschen und in anderen Spezies identifizieren und kategorisieren. Zuerst gab es Probleme mit der Identifikation der Proteine: Während meiner Doktorarbeit brauchte ich für ein einziges Protein ein halbes Jahr. Stellen Sie sich vor: In einer einzigen menschlichen Zelle hat es circa acht Milliarden Proteine, etwa so viele, wie es Menschen auf der Erde gibt! Und als wir es dann geschafft hatten, mittels Massenspektrometrie die Proteine schneller zu identifizieren, konnten wir mit den riesigen Datenmengen nichts anfangen. Da mussten wir zuerst computerbasierte Ansätze entwickeln. Erst seit einigen Jahren, seit 2013 ungefähr, ist die Technik der Proteomik robust genug, um sie routinemässig einzusetzen.

Das Gebiet hatte lange mit viel Widerstand zu kämpfen.
Ja, es hiess, man solle Forschung lieber «von Hand» im Labor machen, statt Arbeiten an Maschinen abzugeben. Diese Debatte begann in den 80er-Jahren und wurde ziemlich gehässig geführt. Sie drehte sich vorerst um die Sequenzierung von DNA. Diese Diskussion gibt es auch heute noch. Es gibt Forscher, die sagen, nur wenn die Fragestellung sehr begrenzt ist, wenn man also zum Beispiel nur ein Protein genau anschaut, kann man Fortschritte in der Forschung machen. Bei mir aber setzte die Erkenntnis ein, dass biologische Prozesse komplexe Systeme darstellen, die nur erforscht werden können, wenn eine grosse Anzahl von Messungen erhoben werden kann. Schon als ich als Post-Doc an das California Institute of Technology ging, lernte ich: Es ist Zeitverschwendung, repetitive Abläufe durchzuführen.

Rudolf Aebersold

Ruedi Aebersold zählt zu den Gründervätern der Mitte der neunziger Jahre entstandenen Proteomik. Diese Forschungsrichtung veranschaulicht den gesamten Satz an Proteinen, die in einer Zelle vorhanden sind. In einer menschlichen Zelle laufen hunderte biochemische Prozesse gleichzeitig ab, die von zehntausend verschiedenen Proteinarten ausgeführt und gesteuert sind. Das Ziel der Proteomik ist, zu verstehen, welche Funktionen die einzelnen Proteine in einer Zelle ausüben. So könnten Proteine identifiziert werden, die die Entwicklung von Krankheiten auf den Weg bringen. Aebersold hat die Identifikation von Proteinen mit neuen Messverfahren der Massenspektrometrie revolutioniert.

Rudolf Aebersold ist 1954 in der Schweiz geboren und hat 1983 in Basel die Doktorwürde in Zellbiologie erlangt. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit führte ihn in die USA und nach Kanada: als Postdoc an das California Institute of Technology, als Assistenzprofessor an die University of British Columbia in Vancouver und als assoziierter Professor an die University of Washington in Seattle. Er ist Mitgründer des 2000 in Seattle als Weltpremiere eröffneten Instituts für Systembiologie. Aebersold ist Doppelprofessor an der ETH Zürich und an der Universität Zürich. Seit 2004 forscht er am Institut für Biotechnologie und seit 2005 am Institut für molekulare Systembiologie (IMSB) der ETH Zürich, das er mitbegründet hat. Aebersold ist Träger zahlreicher namhafter Auszeichnungen, unter anderem des Human Proteome Organization Achievement Award 2005, des Otto-Nägeli-Preises 2010, des European Proteomics Association Pioneer Award 2012 und des Paracelsus Prize of the Swiss Chemical Society 2018. Seit 2020 ist er Professor Emeritus am IMSB. Er leitet bis Ende 2023 das Tumor-Profiling-Projekt der ETH Zürich.

Haben Sie sich zu Beginn Ihrer Karriere also oft gelangweilt?
Die repetitiven technischen Abläufe waren extrem langweilig. Aber die Fragestellung war faszinierend. Bei meiner Diplomarbeit im Biozentrum Basel habe ich mich dafür interessiert, Proteine zu identifizieren. Das hat mich fasziniert, denen eine Identität zu geben. Ich dachte, wenn man das schafft, kann man daraus etwas machen. Proteine bestehen aus einer Abfolge von verschiedenen Aminosäuren und um sie zu identifizieren, muss man diese Abfolge, die sogenannte Sequenz, aufschlüsseln. So ein Protein hat vielleicht 120 Aminosäuren. Um eine einzige Aminosäure abzuspalten und so zu identifizieren, hat es vier bis fünf repetitive Arbeitsschritte gebraucht. Ich machte jeden Tag das gleiche, ein halbes Jahr lang! Heute kann man mit modernen Methoden und mithilfe von Maschinen 10 000 Proteine identifizieren – pro Stunde.

Warum hat es Sie denn überhaupt interessiert, die Proteine zu charakterisieren?
Erst Proteine machen eine Zelle zu einer lebenden Zelle. Das Leben ist angetrieben von biochemischen Reaktionen. Proteine kontrollieren und katalysieren diese Reaktionen. In einer Zelle laufen tausende biochemische Reaktionen gleichzeitig ab. Wird jemand krank, sind es am Ende ebenfalls Proteine, die Prozesse verändern und so ein Krankheitsbild auslösen. Mich hat die Mechanik dahinter interessiert: Ich wollte wissen, wie das funktioniert. Auch die Genomik hatte damals dieses Ziel, es hiess: Wenn wir die Gesamtheit der Gene kennen, kennen wir im Prinzip die Proteine. Und mit ihnen die Funktionsweise. Am Anfang waren solche Ideen, systematisch alle Gene oder Proteine zu messen, aber extrem kontrovers und wurden stark angegriffen.

Wieso?
Viele Wissenschaftler dachten, dass solche Mengen an Informationen nichts brächten, nach dem Motto: «Garbage in, Garbage out». Dass also grosse Datenmengen zwangsläufig eine schlechte Qualität hätten und deshalb auch schlechte Resultate produzierten. Heute sind die menschlichen Gene vollständig entschlüsselt, das wäre ohne Automatisierung nicht möglich gewesen.

Warum wurden denn diese Debatten so hitzig geführt?
Die Wissenschaft ist generell konservativ: Alles wird immer wieder in Frage gestellt, deshalb bleibt nur, was sich längerfristig halten kann. Wenn dann solche Dogmen einmal etabliert sind, halten sie sich zu lange. Von dem Zeitpunkt, an dem eine bahnbrechende Technologie publiziert wird, bis zu deren Durchsetzung vergehen mindestens fünf Jahre. Jede Veränderung erfährt sehr viel Gegenwind. Das haben wir ständig zu spüren bekommen.

Haben Sie ein Beispiel?
Als wir die Daten aus dem Massenspektrometer, der die Massen der Proteine und deren Aminosäuren-Sequenz misst, mit Hilfe von Computern analysieren wollten, sind wir auf sehr viel Widerstand gestossen. So ein Spektrum ist wie der Fingerabdruck eines Proteins. Früher hat ein Forscher so ein Spektrum selber angeschaut und mit dem Rechner Muster herausgelesen, um das Protein zu bestimmen. Das war unheimlich langsam und repetitiv. Als wir das Institut für Systembiologie im Jahr 2000 in Washington gründeten, hatten wir die Idee, Computerprogramme zu diesem Zweck zu verwenden. Das Problem war, dass wir nicht sicher waren, ob das Programm auch wirklich die richtigen Sequenzen zuordnet. Deshalb programmierten wir ein Wahrscheinlichkeitsprogramm dazu, welches aufgrund statistischer Methoden beurteilte, wie korrekt die Zuordnungen zwischen Spektrum und Sequenz sind. Das war sehr kontrovers. Heute analysieren die Programme zehntausende Spektren pro Stunde.

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Viele Menschen verlieren irgendwann den Anschluss zum Zeitgeist. Sie anscheinend nicht. Wie haben Sie das geschafft?
Wir haben in jeder neuen Entwicklung die Chance gesehen, herauszufinden, wie die Proteine miteinander interagieren. Das war unser Ziel.

Sind Sie privat auch so? Haben Sie TikTok?
TikTok habe ich nicht, ich bin nicht sehr aktiv im Internet. Einerseits ist das sicher eine Generationenfrage, andererseits kann man auf den sozialen Medien sehr viel Zeit verschwenden und Zeit ist genau das, was man am wenigsten hat. Ideen und Geld bekommt man, aber was immer fehlt, ist die Zeit. Deshalb versuche ich, möglichst wenig davon zu verschwenden – wobei ich nicht sage, dass die sozialen Medien nur Zeitverschwendung sind.

Computer haben Sie aber sehr früh schon eingesetzt.
Weil wir mussten. Wir konnten unsere Daten nicht mehr verarbeiten. Dann haben wir diese Programme geschrieben – und sind so weggekommen von der Idee, dass ein Resultat einfach richtig oder falsch ist. Viel eher ist es 99 Prozent richtig. Das ist ein Paradigma-Wechsel in der Wissenschaft. Da sind wir immer noch im Prozess und es gibt immer noch Gegenwind. Absolute Gewissheit zu erreichen ist aber gerade in der Biologie enorm schwierig.

Das müssen Sie erklären.
Jede Messung, die man macht, egal was man misst, wird gestört. Es gibt ein sogenanntes Grundrauschen, woher das kommt, weiss man meist nicht…

…wie wenn Lärm die Musik stört…
…genau, das ist ein gutes Bild. Wenn die Musik viel lauter ist, als der Lärm, hören wir sie gut und alles ist klar. Wenn die Musik aber kaum lauter ist, ist es weniger eindeutig. Der Mensch kann die Musik aber sogar in einer Halle voller Leute heraushören, weil sein Gehirn automatisch die Muster in der Musik erkennt und eigene Wahrscheinlichkeitsrechnungen macht, die die Musiksignale vom Lärm unterscheiden. Dasselbe macht das Programm bei computerbasierten Ansätzen. Darum kommen wir nicht herum.

Dass etwas zu 78 Prozent wahrscheinlich ist, ist aber extrem kontra-intuitiv. Vor allem Laien haben Mühe, das zu verstehen.
Das ist so. Das sehen wir auch bei Studenten. Die wollen am liebsten Regeln lernen, wie beim Autofahren: Wenn man Gas gibt, wird’s schneller und wenn man bremst, langsamer. In der Wissenschaft ist halt vieles komplizierter. Das sieht man in der Medizin, aktuell auch bei Covid-19: Wenn 100 Patienten einen Virusinfekt haben, reagieren die Patienten unterschiedlich. Bei einigen verschwindet die Krankheit wieder, andere sterben. Diese Variabilität ist aber notwendig für das Überleben einer Spezies. Wären alle genau gleich, würde ein Virus, das per Zufall genau auf diese Disposition reagiert, die ganze Spezies auslöschen. Biologie ist also per se voller Rauschen und Variabilität. Und deshalb haben wir keine Wahl, als Messverfahren wie die Massenspektrometrie oder computerbasierte Analysen zu nutzen und mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten.

Aber auch diese müssen dann durch Experimente im Labor mit klassischen Methoden bestätigt werden, oder?
Natürlich, das ist der letzte Schritt. Das ist das Grundprinzip der Forschung, dass alles immer mehrere Male bestätigt werden muss. Das wollen einige derzeit nicht verstehen, gerade wenn es um Impfungen gegen Sars-CoV-2 geht: Wenn Sie einen Impfstoff an 100 Leuten testen und keine Nebenwirkungen finden, heisst das eben noch lange nicht, dass dies das richtige Resultat ist und dass es auf die gesamte Bevölkerung zutrifft. Das müssen Sie zuerst bei anderen Populationen testen. Ältere, Jüngere oder Personen mit anderen genetischen Zusammenhängen können immer noch Nebenwirkungen entwickeln. Alle wollen jetzt Geschwindigkeit, aber Wissenschaft beruht darauf, alles noch einmal zu testen.

Zum Schluss: Der Wissenschaftspreis Marcel Benoist gilt als «Schweizer Nobelpreis». Schweizer Nobelpreisträger haben in der Regel zuerst den Preis Marcel Benoist gewonnen. Wie fühlt es sich an, in der Warteschlange für den Nobelpreis zu stehen?
Das überlege ich mir nicht, ich habe ihn nie angestrebt. Ich habe einige Nobelpreisträger gekannt und der Nobelpreis hat ihr Leben stark verändert, nicht immer zum Positiven. Aber ich freue mich natürlich über den Marcel Benoist Preis. Er ist die Anerkennung einer langen Reise, die 30 Jahre währte.

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