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Fake News sind attraktiv – und verbreiten sich viel schneller als seriöse Fakten. In Zahlen heisst das: Fake News verbreiten sich auf Twitter rund sechsmal schneller als echte News. Das zeigt eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology. Falschmeldungen generieren deutlich mehr Interaktionen – also Kommentare, Shares und Likes als echte Nachrichten von seriösen Medien. Dies belegt BuzzFeed News nachdem es über 20 000 Artikel auf Facebook untersucht hat. Und 45 Fake News zu Corona lösen auf Facebook fast eine halbe Million Likes und Kommentare aus. Wogegen es die entsprechenden Faktenchecks im selben Zeitraum gerade mal auf 28 000 Interaktionen brachten. Dies belegt eine Recherche der Süddeutschen Zeitung.

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Wenn ich solche Zahlen Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft oder Wirtschaft darlege, erhalte ich fast immer dieselben Reaktionen: zuerst ungläubiges Staunen, dann Sätze wie: «Ich bewege mich eben nicht so in den Sozialen Medien». Man könnte auch sagen, die Damen und Herren ignorieren die Tatsache, dass heute ein grosser Teil der Meinungsbildung – und der Desinformation – in den Social Media stattfindet, weil es unter ihrer Würde ist, sich mit Bullshit zu befassen. Das aber ist ein kapitaler Fehler. Denn: 36 Prozent der Bevölkerung konsumieren keine traditionellen Medien mehr und bewegen sich nur noch auf Social Media.

Im Zuge der Pandemie grassiert die Infodemie

Die Coronakrise hat deutlich gezeigt, wie mächtig Fake News sind, wie sehr sich weite Teile der Bevölkerung verunsichern lassen und welch gravierende Auswirkungen Falschmeldungen im Netz haben, wenn sie das Verhalten der Menschen in der Realität beeinflussen. Wenn also zum Beispiel die Leute an Vorsichtsmassnahmen zweifeln oder an abstruse Heilsverspechen glauben.

Anstatt von Fake News redet der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt in seinem Bestseller von Bullshit. Dieser werde unvermeidlich dann hervorgebracht, wenn Menschen über Dinge sprechen, die sie nicht verstehen.

Übertragen auf die aktuelle Situation heisst das, dass die Fakten verständlich, schnell und mit grosser Wucht verbreitet werden müssen, um Fake News zuvorzukommen. Denn – das zeigt die Wahrnehmungspsychologie – der Mensch neigt dazu, das zu glauben, was er als erstes hört.

Dass die Menschen ein grosses Informationsbedürfnis haben, hat die Coronakrise nämlich ebenfalls gezeigt.

Die Schweizer Online-Portale haben im März dieses Jahres gesamthaft 60 Prozent mehr Zugriffe erlebt als vor Corona. Zugelegt haben vor allem jene, die seriöse Hintergrundinformation anbieten. So erlebte die NZZ online mit 8,7 Millionen Unique Clients einen astronomisch hohen Allzeitrekord – gefolgt von SRF mit 7,7 Millionen und 20 Minuten mit 7,3 Millionen. Auch higgs profitierte von Corona. Wir haben heute rund dreimal mehr Klicks als noch Ende letztes Jahr.

Und jetzt kommt das grosse «Aber»: Weder die grossen Medienhäuser noch higgs können diesen Publikumserfolg in wirtschaftlichen Erfolg umbuchen. Die Leute wollen sich informieren, wollen aber nicht zahlen. Und die Werbeeinahmen sind mit Corona auch nicht gestiegen.

Die Pandemie hat den absurden Widerspruch zwischen hohem Publikumsinteresse und tiefer Zahlungsbereitschaft einmal mehr deutlich gezeigt – und die Krise der Medienbranche brutal verschärft. Eine Krise, die auch von uns Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten das Äusserste abverlangt und darum verlassen auch immer mehr die Branche. Wechseln auf sichere Posten zum Beispiel in der Hochschulkommunikation. Sie kehren den Medien den Rücken zu, obschon sie zuvor mit Leib und Seele von unserem Metier begeistert waren und eine Mission hatten. Nämlich mit Fakten aufzuklären. Doch die Arbeitsbedingungen wurden schlicht zu hart.

Gleichzeitig boomen die Fake-News-Kanäle. Dort erreichen Coronaskeptiker, Impfgegner, Klimalügner und Verschwörungstheoretiker Hunderttausende bis Millionen von Klicks. Nicht wie die NZZ in einem Rekordmonat, sondern mit einem einzelnen Video.

Hinzu kommt: Diese Kreise geben sich gegenseitig grosse Unterstützung, wie die Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen zeigen. Vieles davon läuft über die Social Media. So zeigte eine Untersuchung, dass Facebook-Seiten von Impfgegnern viel stärker mit neutralen Seiten vernetzt sind, wodurch unentschlossene Personen leichter erreicht werden können. Und so gewinnen sie Zuspruch, Einfluss, Macht.

Absurderweise sind es aber gerade auch die traditionellen Medien, die Verschwörungstheorien bekannt machen. Eine Untersuchung in den USA zeigt, dass es Gegner von Klimaschutzmassnahmen doppelt so häufig in die Medien schaffen wie deren Befürworter. Stellungnahmen wissenschaftlicher Institutionen werden deutlich weniger aufgegriffen.

Die Macht der Social Media zu ignorieren ist fatal

Dieser Tendenz darf die Wissenschaft nicht mit Gleichgültigkeit, Ignoranz oder Überheblichkeit begegnen – es braucht Gegenmassnahmen.

Was aber ist die Antwort der Wissenschaft auf dieses Missverhältnis? Man beruft Expertengremien, um die Lage zu analysieren. Man spricht Kredite, um Innovationen im Journalismus zu erforschen. Und mit Sciena ist während des Lockdowns sogar ein neuer Kanal entstanden, der News aus dem ETH-Bereich bündelt. Das ist alles gut und recht.

Aber zu wenig. Zu wenig koordiniert. Zu wenig effektiv. Und zu wenig nahe an den Leuten.

Seit zweieinhalb Jahren versucht higgs die Hochschulen, Akademien, Förderagenturen und andere zu gewinnen, um einen breit wirkenden Kanal zu betreiben, der allgemein verständliche und gesellschaftsrelevante Informationen aus der Wissenschaft für ein grosses Publikum bietet. Einen unabhängigen Kanal, der auf Augenhöhe mit den Lesern kommuniziert. Nach monatelangem Verhandeln ist es gelungen, den Schweizerischen Nationalfonds ins Boot zu holen. Higgs darf nun zwei Jahre auf dessen Unterstützung zählen. Und dafür sind wir auch sehr dankbar.
Aber sonst?

Jede Uni und jede Fachhochschule schaut für sich alleine. Als wir zusammen mit Radio 1 zu Beginn der Pandemie die Idee für einen täglichen Corona-Podcast hatten, fragten wir die Akademie für Naturwissenschaften und jener für Medizin, ob sie uns dabei mit je 10 000 Franken unterstützen. Die Antwort lautete, man sei sicher, dass für den Wissenschaftsjournalismus auch wieder bessere Zeiten kommen. Und «[Wir] verstehen […] nicht, weshalb es jetzt einen Notkredit braucht.»

Man versteht nicht, weshalb es jetzt einen Notkredit braucht. Die Antwort ist ganz einfach: Weil Notstand herrscht. Und zwar nicht nur einer, sondern mehrere gleichzeitige und mit einander verknüpfte Notstände. Der Corona-Notstand macht den Informations-Notstand deutlich – den Vertrauens-Notstand der Wissenschaft und den wirtschaftlichen Notstand der Medien.

Dass das traditionelle Mediensystem kein Geschäftsmodell mehr ist, hat nicht erst die Corona-Krise gezeigt – aber sie hat es in aller Härte verdeutlicht. Ich erinnere: Das Interesse ist hoch, die Zahlbereitschaft tief. Da kann man noch so guten Journalismus betreiben: Davon leben kann man nicht.

Um all diese Notstände zu beheben, müssen all jene Kreise zusammenspannen, die ein Interesse an einer aufgeklärten Bevölkerung haben, an Bürgerinnen und Bürgern, die möglichst faktisch abgestützt entscheiden. Denn vertrauenswürdige Information ist relevant für die Gesellschaft und essenziell für eine funktionierende Demokratie. Wissenschaftsjournalismus ist kein Luxus, den man sich vielleicht und eventuell mal leisten möchte, sondern ein Akt der Selbstverteidigung – und eine gesellschaftliche Pflicht.

Diese Notstände zu beheben, kostet Geld

Bullshit in die Welt zu setzen ist billig und schnell. Fakten aufbereiten hingegen kostet Zeit und Arbeit. Und den Trollen im Internet die Stirn zu bieten, kostet noch mehr Zeit und Arbeit. Und die Basis dafür ist eine Vielfalt an starken Redaktionen mit kompetenten Journalistinnen und Journalisten, die gut recherchierte Hintergründe liefern wie zum Beispiel unser Artikel über die US-amerikanische Verschwörungstheoretikerin Judy Mikovits.

Und um das Angebot weit herum bekannt zu machen, braucht es auch Geld für die Promotion, Inserate in den Social Media und im analogen Leben auf der Strasse. Und: Es braucht eine grosse Social-Media-Offensive. Dazu gehören auch Menschen, die sich via Social Media aktiv in andere Communities einbringen, um dort Fakten zu verbreiten und Fake News richtig zu stellen. Genauso wie es die Verschwörungs-Trolle auch machen, indem sie auf seriösen Medienseiten – auch auf higgs – immer wieder ihren Unsinn einbringen.

Nur so können wir als Gesellschaft den Kampf gegen Falschinformationen gewinnen.

Wie ein Portal gegen wissenschaftliche Falschinformationen funktionieren könnte

Seit nunmehr zweieinhalb Jahren versucht higgs der Desinformation die Stirn zu bieten. Allerdings auf viel zu kleiner Flamme. Uns fehlt das Geld, um wirklich Kraft zu entwickeln und den relevanten und gut geschriebenen Inhalten jene Reichweite zu geben, die sie verdienen – und die nötig ist.

Dazu haben wir gemeinsam mit ein paar idealistischen Unterstützern die Stiftung «Wissen für alle» eingerichtet. Sie soll Geld von allen möglichen Akteuren sammeln und in wissenschaftsjournalistische Projekte stecken. Higgs ist nur eines davon. Die Stiftung soll die Redaktion auch unabhängig vom Fundraising machen, also die journalistische Unabhängigkeit garantieren. Mit dieser Idee sprechen wir seit eineinhalb Jahren nicht nur bei Hochschulen und anderen Akteuren aus der Wissenschaft vor, sondern auch bei Erziehungsdirektionen, Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und vielen mehr. Bisher leider mit mässigem Erfolg. Alle finden die Idee gut, keiner will sich finanziell mit mehr als zwar gut gemeinten, aber doch zu kleinen Beträgen engagieren. Ausser wie gesagt der Schweizerische Nationalfonds.

Das Modell kann aber funktionieren. Das zeigt Luxemburg. Die Plattform Science.lu ist genau so organisiert, wie wir es uns vorstellen: Eine Stiftung, die das Geld verwaltet, eine Redaktion, die unabhängigen Journalismus betreibt. Interessanterweise gibt es in Luxemburg praktisch keine Journalistinnen oder Journalisten, die sich auf Wissenschaft spezialisiert haben. Darum kauft Science.lu Dienstleistungen bei higgs ein. Das zeigt, dass unsere Fachkompetenz anerkannt wird.

Einen Silberstreifen am Horizont stellt das Massnahmenpaket des Bundesrates zugunsten der Medien dar. Darin vorgesehen ist die Förderung kleiner Online-Medien wie zum Beispiel higgs. Gefördert werden sollen vor allem die Kleinen, damit diese die Vielfalt neben den grossen Portalen von NZZ, Tamedia oder SRF erweitern. In welchem Umfang die Förderung möglich sein würde, ist in der Vorlage skizziert: Maximal 80 Prozent der Einkünfte aus der Community – also aus Spenden, Mitgliedschaften und Abos – plus aus gemeinnützigen Zuwendungen – also Stiftungsgeldern – könnten wir beim Staat als Unterstützung beantragen. Das kann für einen Kanal wie higgs entscheiden über Leben oder Sterben.
Der Ständerat hat dem Geschäft vor den Sommerferien im Prinzip zugestimmt, aber noch kein Geld dafür freigegeben. Im September kommt es nun in den Nationalrat. Und wir sind optimistisch.

Der Staat alleine kann es aber nicht richten. Wir sind auch angewiesen auf die Unterstützung durch andere gesellschaftliche Akteure wie Stiftungen und die Privatwirtschaft – und auf die Treue (und die finanziellen Beiträge) der Community.

Damit higgs weiterhin guten, relevanten Journalismus betreiben und sich gegen die Fake-News-Welle stemmen kann.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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