Das musst du wissen

  • Wenn es um Zivilcourage geht, schätzen wir uns oft falsch ein: Wir wollen eingreifen, schauen aber trotzdem weg.
  • Dabei blockiert uns oft das Eigenrisiko, Angst vor Konfrontation und das nötige Wissen über Strategien.
  • Personen, die Wut stärker erleben und auch ausdrücken, schreiten in einer heiklen Situation schneller ein.
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Warst du auch schon Zeugin oder Zeuge einer Belästigung, einer Pöbelei oder Schlägerei und ist dir dabei die Angst im Weg gestanden, um couragiert zu handeln? Zivilcourage zu zeigen, ist nicht einfach. Es liegt allerdings nicht am Mumm, den man hat oder nicht. Denn bewusst mit Ungerechtigkeiten umzugehen, kann man üben.

Zivilcourage vs. Hilfsbereitschaft

Zivilcourage beschreibt einen Akt, mit dem wir in einer ungerechten oder gefährlichen Situation einem anderen Menschen zur Seite stehen. Wir handeln dabei nach unseren moralischen Prinzipien und setzen uns immer einem gewissen Risiko aus. Je nach unmoralischem Verhalten, können wir situativ anders darauf reagieren: Indem wir tadeln, indem wir auf Konfrontation gehen oder indem wir die Grenzüberschreitung einer Autorität melden.

Zivilcourage unterscheidet sich von Hilfsbereitschaft. Ist man hilfsbereit, liegt nicht unbedingt eine Normverletzung vor und man bringt das eigene Leben nicht in Gefahr. Die kognitiven Prozesse, die jeweils in uns vorgehen, sind ebenfalls anders: Wenn wir uns moralisch mutig verhalten, schaltet sich unser Gerechtigkeitssinn ein. Eilen wir hingegen jemandem zur Hilfe, hängt dies mit unserer Fürsorge zusammen. Auch unsere Gemütsstimmung hat einen anderen Effekt, je nachdem, ob wir hilfsbereit sind, oder uns in Zivilcourage üben: Diese beeinflusst unseren hilfsbereiten Akt, nicht aber die Zivilcourage.

Auch der Zuschauereffekt ist nicht in beiden Situationen gleich. Beim sogenannten Bystander-Effekt helfen Menschen tendenziell weniger schnell, wenn zusätzliche Zuschauer um sie herum anwesend sind. Dieser Effekt ist schwächer, wenn Situationen als gefährlich wahrgenommen werden und man physisch angegriffen werden könnte – also in einer Lage, in der unsere Zivilcourage gefordert ist.

Wir wollen nicht wegsehen, machen es aber trotzdem

Grundsätzlich gilt: Wir schätzen uns oft falsch ein, wie bereit wir sind, einzugreifen. Denn nur weil wir denken, dass wir einschreiten, heisst dies nicht, dass wir dann auch tatsächlich handeln. Andersherum vermuten wir ab und zu auch, dass wir nicht einschreiten, treten dann aber trotzdem in Aktion. Dieses Phänomen haben Forschende schon in vielen Studien dokumentiert, die sich um Mobbing in der Schule, um Rassismus und Diebstahl drehten.

Sozialforschende vermuten, dass bei der Einschätzung andere Emotionen aufkommen als beim Durchleben der realen Situation. Hier spielt Wut und wie wir dieser Ausdruck verleihen eine wichtige Rolle: Personen die Wut stärker erleben und auch ausdrücken, überwinden die Angst-Barriere in einer Situation, in der sofortiges Eingreifen erforderlich ist, schneller, während andere nur zuschauen. Das Wut-Erleben kann also ein motivierender «Treibstoff» sein, der uns zum Handeln bringt. Der Wutausbruch kann zudem auch helfen, andere Umstehende miteinzubeziehen und ihnen und der grenzüberschreitenden Person so den Verstoss zu signalisieren.

Gründe warum wir blockiert sind

Was hält uns davon ab, uns einzumischen? «Das sind komplexe Gründe – wahrscheinlich sogar komplexer als wenn wir einschreiten», sagt Anna Baumert, Leiterin der Forschungsgruppe «Zivilcourage» am Max-Planck-Institut in Bonn. Unsere Angst spiele dabei eine grosse Rolle: Einer der Blockade-Gründe sei das Eigenrisiko, welches wir bei einem Eingriff eingehen würden. Zudem seien uns Konfrontationen unangenehm und es falle uns schwer, gesellschaftliche Normen zu brechen. Es kommt also auch darauf an, wie bereit wir sind, diese Regeln zu brechen. «Wir sind sozialisiert, Emotionen wie Ärger zu regulieren», sagt Baumert. Bei manchen flammt dieser Ärger nicht auf, im Gegenteil sind sie in solchen Situationen in einer Schockstarre gefangen, auch «Freeze» genannt.

In gewissen Situationen ist es also durchaus förderlich, sich zu ärgern. Laut Baumert kann uns Ärger helfen, uns zu aktivieren und mit unserer Handlung dann auch unsere Werte zu schützen. Dabei sollte man die Wut nicht unkontrolliert ausleben und die übergriffige Person angreifen, sondern diese lediglich als Katalysator nutzen. Denn gehe man in einer Konfrontation verärgert oder schreiend auf die bedrohliche Person zu, könne man von Zuschauenden selbst als eine Gefahr interpretiert werden.

Hängt es auch von unserer Persönlichkeit ab, ob wir zivilcouragiert sind? «Unsere Persönlichkeitseigenschaften sagen mehr darüber aus, ob wir denken, dass wir eingreifen – und weniger darüber, ob wir es dann auch tun», sagt die Sozialpsychologin. Grundsätzlich gelte: Je offener wir sind, desto aufmerksamer sind wir auch und somit haben wir auch eher die Tendenz, eine Situation als Unrecht aufzufassen. Wie ausgeprägt Eigenschaften wie Unrechtsempfinden oder Ängstlichkeit aber sind, spielt keine grosse Rolle: «Leute, die sehr ängstlich sind, haben in Studien nicht weniger eingegriffen als gelassenere Personen», erklärt die Zivilcourage-Forscherin.

Zivilcourage-Strategien zu entwickeln und somit ein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten bereit zu haben, ist gemäss Baumert am hilfreichsten, um in solchen Situationen richtig zu handeln.

Was du in einer brenzligen Situation tun kannst

Als Allererstes: «Hinschauen und nicht wegschauen», rät Baumert, «und dabei dem unmittelbaren Impuls, sich zu entfernen, widerstehen.» Doch die Situation ist oft gar nicht so eindeutig. In solchen Fällen hilft, umstehende Leute anzusprechen. Fragen wie: «Haben Sie das auch gesehen? Das war doch nicht in Ordnung so?» können gemäss Baumert noch unklare Szenarien aufdecken. Auch konkrete Handlungsaufforderungen an Zuschauende wie: «Sie rufen die Polizei, ich wende mich an das Opfer», seien nützlich, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen und Allianzen zu bilden.

Wende man sich direkt dem Opfer zu, könne ein Themawechsel deeskalierend sein, so Baumert. Ein Gespräch zu beginnen, das mit der Attacke nichts zu tun hat und banale Fragen zu stellen, sei eine hilfreiche Strategie. Zum Beispiel an einer Bushaltestelle: «Wissen Sie wann der nächste Bus kommt? Ich brauche Hilfe mit dem Fahrplan.» Somit lasse man das Opfer nicht allein und könne die Betroffenen aus der Situation herausholen, erklärt Baumert. Wende man sich hingegen direkt an die übergriffige Person, empfiehlt Baumert, die Person immer zu Siezen, um Distanz zu signalisieren und von anderen Zuschauenden nicht selbst als Teil der Gefahr aufgefasst zu werden.

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Ist weiteres Eingreifen nicht möglich oder die Situation zu bedrohlich, ist es angebracht, die Polizei oder weitere Hilfe zu rufen. Zudem empfiehlt die Polizei, trotzdem in der Nähe zu bleiben, um dem Opfer später zu helfen oder um Zeugenaussagen vor Gericht machen zu können.

Etwas zu tun ist im Schnitt aber immer besser, als nicht zu handeln. Selbst zivilcouragiertes Handeln, welches mit einer sehr geringen Hemmschwelle verbunden sei, sei bedeutsamer, als wir oft annähmen, so Baumert: «Wenn man nichts sagt, signalisiert man, dass diese Aussage oder Handlung so in Ordnung ist und wir erschaffen eine normative Realität», sagt die Sozialpsychologin. Ein Beispiel: Wenn im ÖV jemand etwas Fremdenfeindliches oder Antisemitisches sagt und man nicht bereit ist, die rassistische Person zu adressieren, könnte man auch niederschwellig handeln. Zum Beispiel, indem man einer beistehenden Person sagt: «Da stimme ich nicht zu. Das finde ich nicht okay.»

Wie wir uns in Zukunft mehr Courage erspielen könnten

Wer sich Strategien zurecht legt, handelt im Ernstfall vielleicht eher. Doch kann man den Ernstfall trainieren? «Zivilcourage kann man üben wie Klavierspielen», ist Carmen Tanner, Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Professorin an der Universität Zürich, überzeugt. Deshalb hat Tanner das längerfristige Ziel, ein Computerspiel zur Courage-Schulung zu entwickeln.

In einer Studienübersicht haben Tanner und ihr Forschungsteam bereits den Effekt von Video-Games analysiert. «Teilnehmende der Game-Studien zeigten durchschnittlich mehr moralische Sensitivität, grössere Achtsamkeit gegenüber ihren Werten und ein gesteigertes Bewusstsein für die eigenen Vorurteile», sagt Tanner.

Science-Check ✓

Studie: Training Moral Sensitivity Through Video Games: A Review of Suitable Game MechanismsKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsMoralische Prinzipien müssen bis zu einem gewissen Grad verinnerlicht sein, diese sind aber nicht unbedingt universell gültig. Die Resultate sind also nicht unbedingt auf alle Personen übertragbar. Wie lange die Effekte des Spiel-Trainings anhalten, ist nicht bekannt. Die Studie kann also Hinweise geben, muss aber mit Vorsicht betrachtet werde und es braucht weitere Forschung.Mehr Infos zu dieser Studie...

Ein Game zur Förderung des moralischen Bewusstseins hat Tanner bereits entwickelt. Darin konnten Probanden in fiktiver Umgebung moralische Fehler machen, ohne Schaden anzurichten. Die Spielenden treffen auf verschiedene Herausforderungen wie: Bilanzfälschungen, Erpressungen, Mobbing und sonstige Interessenkonflikte. Feedbacks im Spiel helfen ausserdem, gewisse Fähigkeiten wie empathische Anteilnahme zu schulen. «Teilnehmende sollen üben können, in brenzligen Situationen zu reagieren und insgesamt mutiger zu werden», erklärt Tanner. Eine Studie dazu ist erst noch in Arbeit.

Leider ist ein solches Game momentan noch nicht verfügbar. Bis dahin gibt es aber noch weitere Möglichkeiten die Zivilcourage zu stärken: In Trainings, Workshops und Kursen.

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