Das musst du wissen
- Ärzte können Cannabis-Medikamente bald selbst verschreiben – der Umweg übers Bundesamt für Gesundheit fällt weg.
- Damit wird laut Fachleuten die Nachfrage weiter steigen.
- Der Knackpunkt: Die Therapie müssen viele Patienten weiterhin selber bezahlen.
Der medizinische Nutzen von Cannabis-Arzneimitteln ist zwar erst wenig erforscht – trotzdem gibt es Personen, denen diese Medikamente helfen: Menschen mit Multipler Sklerose, chronischen Schmerzen, Depressionen – um nur einige zu nennen. Ihnen verschafft insbesondere das in den Medikamenten enthaltene Tetrahydrocannabinol (THC) Linderung. Das pychoaktive Molekül des Hanfs hilft etwa gegen gegen Übelkeit, Schmerzen und Appetitlosigkeit.
Für Cannabis-Medikamente tritt nun bald eine Gesetzesänderung in Kraft: Ab Sommer 2022 werden Ärzte, die Rezepte für Produkte mit einem THC-Gehalt von mehr als einem Prozent ausstellen, von administrativen Aufgaben entlastet. Denn das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat sich aus dem Genehmigungsverfahren für Rezepte für THC- und CBD-Produkte zurückgezogen. Darunter fällt auch das Medikament Sativex, das einzige aktuell in der Schweiz zugelassene Cannabisarzneimittel. Es hilft gegen Spastik bei Multipler Sklerose.
Ein echter Fortschritt für therapeutisches Cannabis in der Schweiz? Welches sind die Auswirkungen dieser Gesetzesänderung – wer profitiert, wer nicht?
Warum es interessant ist. Der erleichterte Zugang zu THC wird die Voraussetzungen für einen weiteren Anstieg der Nachfrage schaffen: «Wir gehen davon aus, dass die Verschreibungen weiter zunehmen werden», sagt Charlotte Schweizer, Kommunikationsbeauftragte des Berufsverbandes der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH).
Der Hintergrund. Rezepte für den begrenzten medizinischen Gebrauch von Cannabis erhalten Patienten seit 2012. Allerdings mussten diese bisher immer über das BAG ausgestellt werden. Diese Verschreibungen haben in den letzten zehn Jahren einen wachsenden Zuspruch erfahren. 284 Anträge waren es im Jahr 2012, letztes Jahr mit 2555 fast zehnmal so viele. Ursprünglich für sechs Monate genehmigt, wurden die medizinischen Erlaubnisse für diese Behandlungen 2017 um ein Jahr verlängert, Anfang 2021 dann auf zwei Jahre.
Breiter, aber begrenzter medizinischer Rahmen. Das therapeutische Spektrum der Ärzte, die eine THC-Behandlung verschreiben, ist sehr vielfältig. Barbara Broers, Vizepräsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin und Ärztin für Suchtmedizin am Universitätsspital Genf, erläutert:
«Patienten können dieses Molekül bei Multipler Sklerose, Krebs, Endometriose, chronischen Schmerzen, Autoimmunerkrankungen oder auch bei wiederkehrenden Migräneanfällen anwenden.»
Die Liste der Beschwerden, die für eine Behandlung mit Cannabinoiden in Frage kommen, ist lang. Darum können sowohl Allgemeinmediziner als auch Onkologen, Rheumatologen und Gynäkologen Cannabinoide verschreiben.
Alle Personen, die diese Behandlungen bei Fachleuten beantragen, sind daher theoretisch dazu berechtigt. Trotzdem ist der Weg zu einem solchen Rezept mit vielen Hindernissen gepflastert.
Abgesehen davon, dass der Arzt beim BAG eine Ausnahmegenehmigung beantragen muss, werden Hanfprodukte in den meisten Fällen nicht von den Krankenkassen übernommen. Viele Ärzte stehen ihnen skeptisch gegenüber, vor allem aufgrund der begrenzten Studien. Barbara Broers schränkt ein:
«Es handelt sich um eine Behandlung, die immer als letztes Mittel eingesetzt wird, nachdem der Patient alles mit der klassischen Arznei versucht hat.»
Eine Hürde weniger: Wirklich? Wenn die vorherige Genehmigung des BAG im Verwaltungsverfahren wegfällt, dürfte die Erwartungshaltung der in Frage kommenden Patienten steigen. Auch die Ärzte könnten aufgrund der Vereinfachung schneller auf die Anträge eingehen.
Aber wird das Gras mit der neuen Gesetzgebung grüner? Barbara Broers:
«Der Arzt wird mehr Freiheit haben, da er allein mit dem Patienten entscheiden kann, ob ein Medikament auf Cannabinoidbasis die beste Behandlung ist. Abgesehen davon werden die verfügbaren Medikamente für viele Patienten weiterhin unerreichbar sein.»
Die Zahl der Rezepte wird laut den befragten Fachleuten im Sommer nicht sprunghaft ansteigen. Der Grund dafür ist der Preis, wie die Spezialistin des Universitätsspitals Genf erklärt: «Nur Patienten mit Multipler Sklerose werden derzeit für diese Behandlungen entschädigt. Damit sie von den Versicherungen zurückerstattet werden, müssen Medikamente mit THC oder CBD (Cannabidiol) von Swissmedic anerkannt werden. Diese Anerkennung erfordert klinische Studien, die schwierig durchzuführen sind – zum Teil wegen der Einstufung von Cannabis als Betäubungsmittel.»
Claude Vaney, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin (SGCM), ergänzt:
«Eine THC-Behandlung kostet einen Kranken zwischen 200 und 300 Franken pro Monat, die er aus der eigenen Tasche bezahlen muss. Es ist derzeit schwierig, eine Rückerstattung bei Swissmedic zu rechtfertigen, da uns umfangreiche Studien fehlen. Wir hoffen, dass die derzeitige Liberalisierung von THC es uns ermöglichen wird, gute Daten zu sammeln.»
Eine Online-Plattform, die ausschliesslich der Registrierung von Rezepten für medizinisches Cannabis dient, befindet sich derzeit im Aufbau.
Bedarf an weiteren Studien. Wie Fachleute berichten, sind mangelnde wissenschaftliche Daten bei diesem Thema ein grosses Hemmnis. Viele Ärzte weigern sich, ein Produkt zu verschreiben, für das es keine seriösen Studien gibt, die eine solide wissenschaftliche Literatur belegen. Charlotte Schweizer, Kommunikationsbeauftragte der FMH:
«Die Studien über den Nutzen und die Grenzen der medizinischen Behandlung mit THC sind nach wie vor unzureichend. THC-haltiges Cannabis zur medizinischen Verwendung bleibt ein meldepflichtiges Betäubungsmittel.
Bei der Anwendung unterliegt der verschreibende Arzt wie bei anderen Betäubungsmitteln einer Sorgfaltspflicht. Der Arzt trägt die Verantwortung für seine Verschreibung.»
Die umstrittene Aura von Cannabis beeinflusst somit weiterhin die medizinische Verwendung von Cannabis in der Schweiz.