Benedikt Meyer


Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.

Die Industrialisierung war eine stürmische, schmutzige und ungerechte Zeit. Johanna Spyri flirtete deshalb mit dem Rückzug in die heile Bergwelt, Michail Bakunin mit der Revolution. Der Russe war in ganz Europa unterwegs, lebte mehrfach in der Schweiz und trat 1868 der Genfer Sektion der «Internationalen» bei. Geistige Führer der länderübergreifenden Arbeiterbewegung waren Karl Marx und Friedrich Engels – und mit denen überwarf sich Bakunin 1872 am Kongress von Den Haag.

Der Streitpunkt war nicht, ob es eine Revolution brauchte, sondern wie die Welt danach aussehen sollte. Für die Sozialisten brauchte es eine zentrale Führung. Bakunin aber war Anarchist – er wollte gar keine Führung. Schliesslich mussten Bakunin und seine Leute die «Internationale» verlassen. Als Reaktion darauf reiste der Russe in die Schweiz und gründete im bernjurassischen St. Imier seine eigene Vereinigung, die «Antiautoritäre Internationale».

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St. Imier war ein Bauerndorf gewesen, bis es durch den Boom in der Uhrenindustrie und die Gründung von «Longines» zum Uhrmacherstädtchen wurde. Weshalb gerade die Uhrmacher zum Anarchismus neigten, ist Gegenstand ewiger Spekulation. Jedenfalls hatten sich die Arbeiter hier bereits 1871 als «Fédération Jurassienne» von der «Internationalen» losgesagt. Bakunin war hier willkommen und so gründeten Uhrmacher und Russen zusammen die anarchistische Bewegung.

Der jurassische Anarchismus hatte vor allem in den 1870er-Jahren Konjunktur, dann wandten sich die Uhrmacher wieder vermehrt sozialistischen Ideen zu. Auch die «Antiautoritäre Internationale» verschwand. In Genf allerdings blieb eine grössere Anarchistengemeinde aktiv und ihre Verfechter setzten zusehends auf Gewalt.

1885 wurde eine anonyme Drohung veröffentlicht, wonach das Bundeshaus in die Luft gesprengt werden sollte. Einige Jahre später detonierte in der Pariser Nationalversammlung eine Bombe und 1898 floss an der Genfer Seepromenade Blut: ein italienischer Anarchist erstach die österreichisch-ungarische Kaiserin Elisabeth – besser bekannt als Sisi.

Die Revolution allerdings blieb trotz Terrorakten aus. Sie kam erst 20 Jahre später ins Rollen und ihr wichtigster Akteur war tatsächlich ein lange in der Schweiz wohnhafter Russe. Sein Name allerdings war nicht Michail Bakunin, sondern Wladimir Uljanow – Pseudonym: Lenin.

Digital in die Vergangenheit


Dieser Beitrag erschien erstmals auf dem Blog des Schweizerischen Nationalsmuseums.

Der Blog des Schweizerischen Nationalmuseums publiziert regelmässig Artikel über historische Themen. Diese reichen von den Habsburgern über Auslandschweizer bis hin zu heimischer Popmusik, die es zu Weltruhm gebracht hat. Der Blog beleuchtet viele Facetten der Landesgeschichte in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Mehr dazu gibt es unter: blog.nationalmuseum.ch

Zeitreise

In der «Zeitreise» erzählt der Historiker und Autor Benedikt Meyer Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catillons tragischem Ende und von Henri Dunant bis Iris von Roten. Die Serie erschien erstmals bei Transhelvetica und auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums.
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