Er gilt als eine der berühmtesten Figuren der Weltgeschichte: Napoleon Bonaparte. Und noch immer vermag er die Gemüter zu erhitzen. Der vielleicht heftigste Vorwurf gegen die Gedenkfeiern zum Todestag kommt aus den Vereinigten Staaten. In einem in der New York Times veröffentlichten Beitrag schreibt die haitianisch-amerikanische Wissenschaftlerin Marlene Daut: «Napoleon ist kein Held, den man feiern sollte.»
Daut beschreibt Napoleon als «Frankreichs grössten Tyrannen», einen «Architekten des modernen Völkermords», einen «rassistischen und völkermordenden Kriegstreiber» und eine «Ikone der weissen Vorherrschaft». Vor allem wirft sie ihm vor, die Sklaverei in der französischen Karibik wieder eingeführt zu haben.
Auch in Frankreich wird darüber debattiert, ob die Zweihundertjahrfeier im Gedenken an Napoleon angemessen ist. Verschiedene Verbände und politische Persönlichkeiten beanstanden die Tatsache, eine historische Figur zu feiern, die ausdrücklich als despotisch, frauenfeindlich und blutrünstig wahrgenommen wird…
Auch für die Schweiz ist Napoleon eine zwiespältige Figur: Seine Mediationsakte brachte einem Land am Rand des Bürgerkriegs zwar den Frieden, doch die Napoleonischen Kriege belasteten die Schweiz auch.
Wie soll man sich nun einer solchen Figur nähern, 200 Jahre nach ihrem Tod? Der Historiker Alain-Jacques Tornare hat als Spezialist für die Geschichte der französisch-schweizerischen Beziehungen und der revolutionären und napoleonischen Zeit Antworten auf diese Fragen. Er hat kürzlich ein Buch über Jean-Abrahm Noverraz mitverfasst. Noverraz war ein Schweizer Diener, der die letzten Momente Napoleons auf St. Helena miterlebte.
Was halten Sie ganz allgemein von diesen Kontroversen um Napoleon?
Alle grossen Figuren und grossen Ereignisse werden in Frage gestellt; das entspricht dem Zeitgeist. Wir werden bald von der politischen Korrektheit zur historischen Korrektheit übergehen.
Es ist wahr, dass er eine spaltende historische Figur ist, die nicht nur gute Erinnerungen hinterlassen hat. Schon zu seinen Lebzeiten nannte man ihn «Usurpator» oder «Ungeheuer». Man muss jedoch zwischen den beiden unterscheiden. Persönlich mag ich den Ersten Konsul Bonaparte sehr, aber viel weniger den Kaiser Napoleon. Man muss immer wissen, über wen man spricht.
Und wie das Sprichwort sagt: «Man leiht nur den Reichen.» Ihm werden viele Dinge aus einer früheren Zeit zugeschrieben – sei es positiv oder negativ. Nehmen wir als Beispiel die napoleonischen Eroberungen: Er war es nicht, der das Konzept der «natürlichen Grenzen» erfand, das Frankreich dazu brachte, sich bis zum Rhein auszudehnen.
Auf der positiven Seite ist zwar wahr, dass er das Zivilgesetzbuch fertiggestellt hat, aber er hat es nicht geschaffen. Die Zeit des Konsulats, als er an die Macht kam, konkretisierte lediglich, was bereits während der revolutionären Periode erdacht worden war.
Und was ist mit diesen konkreten Vorwürfen von Rassismus, Kolonialismus und Völkermord?
Die Wiedereinführung der Sklaverei ist jene Sache, die ihm am meisten vorgeworfen wird. Das wirklich Erstaunliche für die damalige Zeit war aber nicht die Wiedereinführung der Sklaverei im Jahr 1802, sondern deren Abschaffung im Jahr 1794.
Napoleon Bonaparte stellte lediglich eine De-facto-Situation wieder her, denn die Abschaffung der Sklaverei war vor Ort nicht erreicht worden; man hatte sie lediglich von Sklaverei in Zwangsarbeit umgewandelt. Was nicht allgemein bekannt ist: Napoleon zog während der Herrschaft der Hundert Tage [Zeitraum zwischen der erneuten Machtübernahme in Frankreich nach seiner Rückkehr von der Verbannung auf Elba bis zum endgültigen Machtverlust nach der Schlacht bei Waterloo, die Red.] die Abschaffung der Sklaverei noch einmal in Betracht.
Was den Angriff auf Napoleon betreffend Kolonialismus angeht – das ist ein phänomenales Missverständnis: Er hat nichts zur Kolonialisierung beigetragen. Im Gegenteil. Er liess Louisiana gehen und verkaufte es an die Vereinigten Staaten. In Tat und Wahrheit war Napoleon intelligent genug zu verstehen, dass Frankreich nicht die Mittel hatte, dieses Gebiet zu halten, das es am Ende verloren hätte, so wie Mexiko Texas verlor.
Also entschied er sich, durch den Verkauf des Landes an die Vereinigten Staaten einen Gewinn zu erzielen. In böser und anachronistischer Absicht könnte man in diesem Verkauf die Prämissen einer Politik der Dekolonisierung sehen, so wie man in der Wiedereinführung der Sklaverei eine kolonialistische und rassistische Politik sieht.
Was das Problem des Völkermords angeht, gibt es immer einen sehr schmerzhaften Vergleich mit Hitler, vor allem wegen des Russlandfeldzugs und der Idee der Eroberung. Aber wenn es etwas gibt, was man Napoleon nicht vorwerfen kann, dann ist es, in irgendeiner Weise Völkermord begangen zu haben. Und wenn er seine Zeit damit verbrachte, Krieg zu führen, dann auch deshalb, weil seine Feinde entschlossen waren, ihn zu entmachten.
Gibt es eine Tendenz, diese Persönlichkeit zu dunkel zu zeichnen?
Wir reden immer darüber, was falsch war, aber wir vergessen, was positiv war. Es war zum Beispiel Napoleon, der das Verbot der Homosexualität verhinderte. Ihm war es zu verdanken, dass dies in Frankreich kein Verbrechen mehr war. Das ist ein Aspekt, der überhaupt nicht hervorgehoben wird.
Er arbeitete auch hart für den religiösen Frieden; er war ein grosser Friedensstifter in Sachen Religion. Zum Beispiel ist es Napoleon zu verdanken, dass Menschen jüdischen Glaubens in Frankreich anerkannt wurden.
Ohne die grossen Klassiker im langen Katalog der positiven Punkte zu vergessen: die Gründung der Polytechnischen Schule, der Börse, des Grundbuchamts, des Industriegerichts, der Bank von Frankreich, der Ehrenlegion, der Gymnasien und die Wiederbegründung der Universitäten, usw.
_____________
Abonniere hier unseren Newsletter! ✉️
_____________
In der Schweiz erinnert man sich an Napoleon vor allem als den Mann hinter der Mediationsakte, was als positiv angesehen wird. Anlässlich der Zweihundertjahrfeier dieses Gesetzes bezeichnete der damalige Bundespräsident Pascal Couchepin dies sogar als einen «Akt der Weisheit».
Wie man auch immer sagen mag, es ist klar, dass die Mediationsakte von 1803 ein positives Element bleibt, das einer Schweiz, die damals am Rand des Bürgerkriegs stand, eine gewisse Gelassenheit zurückgab. Er hatte verstanden, dass dies für die Schweiz existenziell wichtig war.
Indem er verhinderte, dass die Föderalisten die Unitarier der Helvetischen Republik verfolgten, bildete er die Grundlage des Konsenses. Seine Mediationsakte legte auch das Prinzip der Gleichheit zwischen den verschiedenen Kantonen fest.
Er konkretisierte auch die Gleichberechtigung der Sprachen: Vor 1798 war die Eidgenossenschaft ein rein deutschsprachiges Gebilde mit lateinischsprachigen Anhängseln. Damit legte er den Grundstein für die Schaffung der Schweiz als moderner Bundesstaat im Jahr 1848.
Manchmal war er sogar geradezu visionär. Zum Beispiel durch die Schaffung des Kantons Aargau, der die Kantone Bern und Zürich trennte und letzteren flankierte, um ihn präventiv gegenüber den Kantonen Thurgau und St. Gallen zu schwächen, was die gewaltige wirtschaftliche Entwicklung Zürichs im 19. Jahrhundert vorwegnahm.
Aber auch in der Schweiz ist die Bilanz nicht nur positiv. Die Schweiz war zu einem Vasallenstaat des französischen Reichs geworden. Die menschlichen und wirtschaftlichen Kosten waren so hoch, dass die öffentliche Meinung in der Schweiz am Ende der Herrschaft Napoleons offen feindlich gesinnt war.
Auf der negativen Seite sind die menschlichen Kosten der Napoleonischen Kriege beträchtlich: Mehr als 30 000 Schweizer dienten Napoleon als Söldner, bei einer Bevölkerung von 1,5 Millionen. Viele starben, darunter die meisten der 9000 Schweizer, die am Russlandfeldzug von 1812 teilnahmen.
Die Schweiz war verpflichtet, ein Kontingent zu stellen, dessen Umfang zunächst auf 18 000 Mann festgelegt und mit der Zeit auf 12 000 Mann reduziert wurde. Dieser Militärdienst war sehr unpopulär, aber wenigstens entging die Schweiz der Wehrpflicht.
Aus wirtschaftlicher Sicht zeigt sich ein gemischtes Bild. So behinderte die Kontinentalsperre gegen Grossbritannien zwar den Schweizer Handel. Aber das Fehlen der britischen Produkte begünstigte auch die Entwicklung des Maschinenbaus in der Ostschweiz.