Das musst du wissen
- Mitte April kam Oksana Hela aus der ostukrainischen Uni-Stadt Charkiw an die Universität Basel.
- Der Forschungsaufenthalt ist für die junge Frau eine Chance, die sich erst durch den Krieg ergeben hat.
- Die Historikerin untersucht in ihrer Doktorarbeit Karikaturen aus Satiremagazinen in der Sowjet-Zeit.
Es ist ein düsteres, apokalyptisches Bildnis: Eine Armee von Skeletten terrorisiert verängstigte Menschenmassen. Die Landschaft ist karg, der Boden gesäumt mit Leichen, im See treiben Schiffwracks und der Himmel ist schwarz vom Rauch brennender Städte. In unzähligen detaillierten Episoden wird gezeigt, wie die Skelette Menschen demütigen, verängstigen, abschlachten. Der Triumph des Todes. Eine halbe Stunde betrachtet Oksana Hela das Gemälde von Peter Bruegel dem Jüngeren im Basler Kunstmuseum bei ihrem kürzlichen Besuch. Die 27-Jährige studiert die grausamen Episoden des Bilds – und denkt dabei an ihr Heimatland, die Ukraine. An Charkiw, ihre geliebte Heimatstadt, auf die dieser Tage wieder russische Bomben fallen. Die Nähe zur Grenze hat die Wissenschaftsmetropole – dreimal so viele Einwohnende wie Zürich und 42 Hochschulen – schon am ersten Tag des russischen Überfalls zum Kriegsschauplatz gemacht.
Sich selbst könnte Hela in den beiden Liebenden im unteren rechten Eck des Bildes von Bruegel erkennen: Als einzige Figuren können sie den Triumph des Todes ignorieren. Das versuchte Hela auch: Als am Morgen des 24. Februar 2022 der Lärm der ersten Explosionen durch die isolierten Fenster im obersten Stock eines Hochhauses in Pissotschyn, einer Kleinstadt im Westen der Charkiwer Agglomeration, drücken, befindet sich Oksana Hela in ihrer eigenen Welt: Eingetaucht in die Karikaturen sowjetischer Satiremagazine, welche die Historikerin für ihre Doktorarbeit untersucht. Wissenschaftliches Arbeiten kann für Hela so immersiv sein wie Virtual-Reality-Brillen, so arbeitet sie am Produktivsten. Wer nächtelang mit seiner Dissertation beschäftigt ist, lässt sich auch vom Krieg nicht erschüttern – also schreibt Hela noch zwei weitere Tage an der Dissertation. Erst am dritten Tag kommen die Explosionen so nah, dass sie sich wie Erdbeben anfühlen und der Bombenalarm auf dem Handy so häufig ausgelöst wird, dass Konzentration nicht mehr möglich ist.
In Basel kann sie wieder zur Ruhe kommen
Während Hela ihre Geschichte erzählt, ist die Handy-App mit dem Bombenalarm deinstalliert. In Basel muss sie keine Luftangriffe fürchten. Nur gelegentlich weht der Wind den Klang von Martinshörner über die Hecken des Hinterhofs in den Basler Vorstädten – gemeinsam mit dem Geruch von Marihuana. In dem Büro-Gebäude mit Altbau-Charme des Geschichtsdepartements der Universität Basel kann Hela wieder in Ruhe arbeiten. Die sommerlich luftig gekleidete junge Frau bietet Waffeln und Pfirsiche an – erbeutet auf dem Shoppingtrip nach Deutschland, wo die Produkte viel günstiger sind. «Das Fleisch in der Schweiz ist so teuer, dass ich überlege, Vegetarierin zu werden», sagt sie auf Englisch und lacht. Für ihre Englischkenntnisse entschuldigt sie sich bereits im Voraus, doch die Übersetzungs-App DeepL muss sie dann doch nur selten benutzen. Und ausserdem lernt sie sowieso gerade intensiv Deutsch, ein Kurs morgens und ein weiterer abends. Sie weiss bereits, dass das Wort «Dach» in der deutschen und der ukrainischen Sprache gleich klingt und die gleiche Bedeutung hat.
Dass ihr das Dach auf den Kopf fällt – diese Angst verfolgte Hela in den ersten Kriegstagen. Ab dem dritten Tag musste sie die Nächte im Keller verbringen, dem provisorischen Luftschutzbunker. «Wäre das Hochhaus von einer Bombe getroffen worden, wären wir lebendig begraben worden», sagt sie. Acht Tage hielt es Hela in dieser permanenten Todesangst aus. Doch nachdem die Nachrichten aus Charkiw immer erschütternder wurden, beschloss sie, die Stadt zu verlassen. Im Internet fand sie einen Freiwilligen, der Fluchtfahrten aus der Region in die vom Krieg unberührte Innerukraine anbot. Hela floh in die kleine Siedlung Lutovynivka, wo Geflüchtete aus der Ostukraine vorrübergehend wohnen durften, ohne Miete zahlen zu müssen. Im Gepäck: ein kleiner Rucksack und ihre Katze Simka. «Sie hat mir in den Nächten im Keller sehr viel Trost gespendet», sagt Hela. Den Laptop mit der Dissertation liess sie hingegen zunächst in ihrer Wohnung – sie konnte ihn sich mit der im Vergleich zur Schweiz selbst in Kriegszeiten wahnsinnig schnellen ukrainischen Post – «wird sonntagmorgens in Charkiw ein Brief abgeschickt, ist er am frühen Abend bereits in Kiew» – nachliefern lassen.
«Meine Eltern dachten, sie sind nirgends in der Ukraine sicher»
Während sie in Lutovynivka ausharrte, versuchte sie noch, ihre Eltern ebenfalls zur Flucht zu bewegen. Diese wohnen nämlich in Rohan, einer Kleinstadt im Osten von Charkiw. Hier muss man nicht nur den Bombenalarm, sondern auch die russischen Panzer und Strassenschlachten fürchten. Wer Bilder von Malay Rohan – «quasi das Kleinbasel von Rohan», erklärt Hela – googelt, kann die Vergleiche mit Brueghels «Triumph des Todes» nachvollziehen. Auch Helas Elternhaus hat keine Fenster mehr, die Tür wurde durch die Druckwellen der Explosionen beschädigt. Statt zu fliehen, harrten Helas Eltern aber zunächst in Luftschutzbunkern aus. «Sie dachten, dass die Angriffe überall gleich schlimm sind – dass sie nirgends in der Ukraine sicher sein können. Ausserdem haben sie erwartet, dass der Krieg nur wenige Tage dauern wird,» Erst im April entschieden sie sich, mit dem Bus nach Lutovynivka zu ihrer Tochter zu fliehen. «Sie sahen um Jahre gealtert aus, der Krieg war ihnen ins Gesicht geschrieben», so Hela.
Damals zeichnete sich bereits ab: Der Krieg wird noch lange dauern, eine Rückkehr zur akademischen Normalität in Charkiw war nicht absehbar. Ihre beiden Jobs – Assistenzdozentin für Geschichtsseminare an der Staatlichen Biotechnologischen Universität und private Nachhilfelehrerin für Geschichts-Klausuren in der Oberstufe – konnte Hela nun nicht mehr ausführen, sie erhält seit Februar keinen Lohn mehr. Also googelte sie, wo im Ausland ukrainische Forschende an wissenschaftlichen Programmen teilnehmen können. Durch Empfehlungen konnte sie Kontakt zu Olena Palko aufnehmen, einer ukrainischstämmigen Forscherin, die ab August an der Universität Basel zur Minderheitenpolitik der Sowjets in der Ukraine während der Zwischenkriegszeit forschen wird. Zwar nicht ganz Helas Forschungsfeld, aber eine spannende Chance. Und weil sie Palko so nett fand, lehnte Hela das Angebot der St-Andrews-Universität in Schottland ab und machte sich Mitte April auf den Weg nach Basel.
Dank einer Geschichts-Olympiade heute Historikerin
Heute lebt Hela zur Untermiete in der Wohnung einer jungen Wissenschaftlerin in Kleinbasel, hat das Apartment allerdings weitestgehend für sich. Ihr gefällt die Stadt: Die gleich doppelte Grenznähe, der Multi-Kulti-Lifestyle und die «chill people». Sie schätzt, dass die Wege viel kürzer sind als im weitläufigen Charkiw: Statt anderthalb Stunden hat sie nun 15 Minuten zur Arbeit. Als Historikerin findet sie es natürlich spannend, ab der ältesten Universität der Schweiz arbeiten zu können. Hier hat bereits der Philosoph Erasmus von Rotterdam gewirkt, dessen Grabstätte im Basler Münster Hela – sie sagt «Erasmus Rotterdamski» – bereits mehrfach besucht hat. Dass sich die junge Frau so für Geschichte interessiert, hat sie einem guten Geschichtslehrer in der achten Klasse zu verdanken. «Es gab eine Geschichts-Olympiade an unserer Schule. Niemand meldete sich freiwillig, also hat mein Lehrer mich empfohlen – und ich kann nunmal nicht nein sagen», erzählt sie und lacht.
Damals bemerkte sie, wie viel Spass es ihr macht, geschichtliche Zusammenhänge zu verstehen. Also entschloss sich Hela, an der Karazin-Universität, einem Prachtbau für 12000 Studierende neben dem Charkiwer Zoo, Geschichte zu studieren – und verwarf damit ihren ursprünglichen Plan, Chirurgin zu werden. Dieser Berufswunsch war bereits in der Kindheit gereift, denn Hela lernte bereits früh Operationsmedizin kennen: Als Zwölfjährige war sie Rückenmarkspenderin für ihren älteren Bruder, der an Blutkrebs erkrankte. Die Familie versuchte alles, um ihn zu retten: «Die Ärzte in der Ukraine sind nicht sonderlich gut. Weil es in der Ukraine keine Krankenversicherung gibt, mussten wir uns das Geld von Freunden leihen», erzählt Hela. In der Verzweiflung wurden die Kinder der nichtreligiösen Familie sogar getauft. Doch es half nichts: Der Triumph des Todes war unausweichlich.
Abschalten auf Ausflügen durch die Schweiz
Ob der Tod auch in Charkiw triumphiert, vermag Oksana Hela nicht zu sagen. Sie vermisst die Zeiten, in denen die Nachrichten nicht geflutet waren von Kriegsmeldungen aus ihrer Heimat – und sie vermisst ihre Katze: «Mit meinen Eltern und meinem Freund, der als wehrpflichtiger Mann die Ukraine nicht verlassen darf, kann ich jeden Tag telefonieren, mit ihr nicht.» Doch stärker als das Heimweh ist die Erleichterung, in Basel für den Moment zur Ruhe kommen zu können: «In der Ukraine habe ich oft geweint, ständig gezittert und musste mich mit Medikamenten beruhigen. Hier kann ich endlich durchatmen.» Bei Ausflügen nach Locarno und Lausanne, an den Vierwaldstättersee und aufs Matterhorn kann sie abschalten – bis vor kurzem konnte, wer einen ukrainischen Pass besitzt, in der Schweiz noch gratis mit dem ÖV fahren.
Kostenfreies Reisen in dem Land, in das ihre Mutter gerne ausgewandert wäre und ein spannendes Forschungsprojekt: Dass sie diese Möglichkeiten hat, nimmt Oksana Hela durchaus als eine Chance wahr. Sie ist daher sehr dankbar für die Forschenden insbesondere in der Schweiz, die sich dafür eingesetzt haben, dass sie ihre Forschung fortsetzen kann. Dennoch: Es wäre ihr lieber, sie hätte Charkiw, die Ukraine nie verlassen müssen. Sie hofft, dass der Krieg vorbei und der Wiederaufbau vorangeschritten ist, wenn sie im Oktober 2023 ihre Doktorarbeit verteidigen soll. Ihr Wunsch ist, auf der akademischen Leiter hochzuklettern und irgendwann als Dozentin selbst Geschichte an Studierende zu vermitteln – wenn der Krieg dann irgendwann mal nicht mehr bittere Gegenwart ist, sondern selbst Geschichte sein wird.