Das musst du wissen

  • Anfang März kam die Ökonomin Viktoriia Alpakova aus der Ukraine in die Schweiz an die Berner Fachhochschule.
  • Hier arbeitet sie an einem Schweizer Projekt mit und hält weiterhin Vorlesungen für Studierende in Kiew.
  • In der Schweiz scheint es kaum etwas zu geben, dass ihr nicht gefällt.
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In der Schweiz war sie noch nie. Doch als die E-Mail von der Berner Fachhochschule kam, zögerte sie nicht lange und nahm die Einladung an. Etwa eine Woche später landete die Ukrainerin Viktoriia Apalkova (43) am Flughafen in Basel – mit einem einzigen Koffer für sich und ihre beiden Söhne Nikita (16) und Boryslav (13).

Es war eine Reise ins Unbekannte – und eine ohne Erwartungen. «Ich war im Überlebens-Modus, da erwartet man nicht viel», erzählt Viktoriia Apalkova. Drei Nächte hatte sie zusammen mit ihrem Mann und den Kindern in der Tiefgarage ihres Wohnhauses im Kiewer Vorort Irpin verbracht, sich da vor dem Angriff der Russen versteckt. Sie überlegte sich, zur lokalen Gebietsverteidigung zu gehen, um dort als Freiwillige die ukrainischen Truppen zu unterstützen. «Doch die ständigen Explosionen und Alarmsirenen haben meine Kinder zu sehr verängstigt, sodass wir uns entschlossen, die Stadt zu verlassen». Mit dem Auto machten sie sich also auf Richtung Westen, in die Oblast Transkarpatien zu Verwandten – zusammen mit Tausenden anderen auf der Flucht, und im Stau: Drei Tage waren sie unterwegs, weil es so viel Verkehr hatte. «Wir sahen und hörten zwei Militärflugzeuge, die ständig über einer Gasstation kreisten», erinnert sich die zweifache Mutter, «und später erfuhren wir, dass um diese Station gekämpft wurde». «Wir waren einfach glücklich, dass wir das alles überlebten – es hätte auch schief gehen können.» Eine sehr schwierige Erfahrung sei das gewesen, und noch immer achtet sie auf jedes Flugzeug und jeden Helikopter am Himmel, auch wenn sie nicht mehr gleich zusammenzucke.

«Wir waren einfach glücklich, dass wir das alles überlebten – es hätte auch schief gehen können.»

Rumsitzen ist nicht ihr Ding

All dies erzählt die Ökonomin in ihrem neuen Büro am Zentrum für Innovation und Digitalisierung im Bernapark nahe Bern. Hier hat sie über das Programm «Visiting Researcher» als Gastwissenschaftlerin der Berner Fachhochschule Unterschlupf gefunden – ein Programm, das Wissenschaftlerinnen wie ihr eine sichere Unterkunft und einen Arbeitsplatz bietet, um die eigene Forschung weiterverfolgen zu können. Doch die Ukrainerin wollte mehr: Sie wollte sich in Projekten nützlich machen. «Ich bin eine Person der Taten», sagt sie, «und ich mag es, voranzukommen.» Innerhalb kurzer Zeit war ein passendes Projekt gefunden, in dem es um Low-End-Innovationen geht, also Innovationen für kleine Budgets. Mittlerweile hat sie auch einen Vertrag erhalten, arbeitet also offiziell am Institut für Innovation und strategisches Unternehmertum der Berner Fachhochschule mit.

Ukraine beim Wiederaufbau unterstützen

Daneben verfolgt sie eine Idee, die ihre Forschungsschwerpunkte nachhaltige Entwicklung und neue Geschäftsökosysteme verbindet: Zusammen mit ihrem Mann, der noch immer in der Ukraine lebt, will sie ukrainischen Unternehmen aus stark vom Krieg betroffenen Gebieten helfen, in weniger zerstörte Gebiete umzusiedeln. Der zentrale Punkt dabei sei, sie nachhaltig wiederaufzubauen, nach den Regeln und Standards der EU. Den Entschluss, ihrem Land mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten als Forscherin aus der Krise zu helfen, fasste sie bereits im Haus ihrer Verwandten in Transkarpatien – und auch die Projektidee selber hatte sie bereits dort. «Doch dort konnte ich unmöglich effizient arbeiten», erzählt sie. Erstens musste sie sich um die Kinder kümmern, zweitens war das Haus voller Leute und drittens auch die Internetverbindung schlecht. Ganz anders die Situation nun hier in der Schweiz. Und: Ihre Idee stiess auch beim Leiter des Instituts auf offene Ohren. Gemeinsam haben die beiden Forschenden eine Skizze für ein entsprechendes Projekt erstellt und beim Schweizerischen Nationalfonds zur Evaluation eingereicht.

Doch damit noch nicht genug: Sie hält weiterhin Online-Vorlesungen und -Seminare für ihre Studentinnen und Studenten an der nationalen Wadym-Hetman-Wirtschaftsuniversität sowie der nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Themen sind unter anderem Weltwirtschaft, globales Unternehmertum oder internationales Bankenwesen. Entsprechend international ist auch ihr Publikum, beispielsweise aus Ecuador oder Argentinien.

«Man kann nicht ständig negative News lesen»

«Ich arbeite den ganzen Tag, und ja, es ist viel», gibt sie selber zu. Doch sie möge es, viel um die Ohren zu haben. «Ich mag diese Situation. Denn du kannst nicht einfach den ganzen Tag negative Nachrichten lesen. Natürlich existieren sie und sie betreffen auch meine Familie. Etwa als die Mutter meines Mannes in ihrem Versteck von Splittern einer Granate oder von Minen getroffen und verletzt wurde. Glücklicherweise konnte sie evakuiert werden und befindet sich nun in einem Spital in der Westukraine». Solche Nachrichten sind sehr stressig, sagt sie, und man habe dann nur zwei Optionen: Lange in dieser Nachrichtenatmosphäre zu sitzen oder vorwärts zu gehen und zu versuchen, alltäglichen Aktivitäten nachzugehen.

«Ich bin eine Person der Taten und ich mag es, voranzukommen.»

Viktoriia Alpakova, die vor Energie nur so sprüht und beim Sprechen wild mit den Händen gestikuliert, hat klar die zweite Option gewählt. Sie sei sehr dankbar, dass sie und ihre Kinder diese Möglichkeit erhalten habe, sagt sie. Überhaupt sei das Institut hier ein Glücksfall für sie, denn die Forschungsschwerpunkte und ihre eigenen Interessen stimmen sehr gut überein. Und auch die Umgebung hier im Bernapark, wo viele Start-ups angesiedelt sind, sei äusserst interessant und bereichernd. «Ich nehme an allen Veranstaltungen teil und versuche, mit verschiedensten Unternehmen zu sprechen», sagt sie. Sie will ihren Horizont erweitern, saugt alles in sich auf. «Wir können viel von der Schweiz lernen». Und endlich seien ihre Deutschkenntnisse nützlich, sagt sie lachend und wechselt sogleich vom Englischen ins Deutsche: «Ich verstehe Deutsch. Ich kann sprechen. Ich studierte Deutsch in der Universität. Mein Deutsch ist nicht so gut. Aber ich versuche, zu studieren und habe jede Woche Deutschklassen.»

Warten auf den Sieg

Viktoriia Alpakova fühlt sich sichtlich wohl hier, und sagt auch selber, dass es ihr hier sehr gut gefällt. Nicht nur die spannende Arbeit, auch die freundlichen und hilfsbereiten Menschen, die wunderschöne Natur. Sie schwärmt von den Kühen und Pferden, die ihr beim Joggen begegnen – «zuhause im Park traf ich nur auf Eichhörnchen». Überhaupt scheint sie eine Meisterin darin zu sein, überall das Positive zu sehen. Dennoch, Kiew – und auch ihr Mann, mit dem sie täglich in Kontakt steht – fehlen ihr natürlich schon. «Ich vermisse die guten, unbeschwerten Tage, einfach mit Freunden und Familie bei schönem Wetter durch das Stadtzentrum zu spazieren, Kaffee zu trinken und sich auszuruhen». Hier fokussiere sie sich voll und ganz auf die Arbeit, aber nicht, weil ihr neuer Chef das verlange, sondern sie sich selber pushe. «Den Menschen in der Ukraine geht es schlecht, sie können sich nicht ausruhen und pausieren.» Darum möchte sie das aus moralischen Gründen auch nicht tun. «Wir alle glauben daran, dass die Ukraine gewinnt», sagt sie nicht ohne Stolz. Aber das brauche Zeit.

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