Das musst du wissen

  • Medizin und Philosophie gehen davon aus, dass Schmerzen mentale Zustände sind, also im Gehirn stattfinden.
  • Die meisten Menschen lokalisieren Schmerz aber in ihrem Körper, zum Beispiel im Knie.
  • Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir lernen, anders über Schmerz zu sprechen, sagt ein Philosoph.

Herr Reuter, warum interessieren Sie sich für Schmerzen? Zwickt es Sie ständig, oder hatten Sie ein spezielles Schmerzerlebnis?

Weder noch. Als Wissenschaftler bin ich eher durch Zufall auf dieses Thema gestossen. Mein ursprüngliches Interesse, dem ich auch meine Doktorarbeit gewidmet habe, war unser Bewusstsein im Allgemeinen. Und der Lieblingsbewusstseinszustand der Forschenden in der Philosophie ist nun einmal die Schmerzempfindung. Ich stellte fest: Meine Ansichten hier waren nicht konform damit, wie man das Alltagsverständnis von Schmerzen betrachtet.

Inwiefern?

In der Medizin und in der Philosophie geht man davon aus, dass Schmerzen mentale Zustände sind – also Erlebnisse und Erfahrungen, die sich im Gehirn abspielen. Wenn ich mir aber überlege, wie wir als Laien über Schmerzen denken, dann passt das nicht zusammen. Denn wenn wir über Schmerzen sprechen, sagen wir, dass wir den Schmerz in einem Körperteil fühlen – nehmen wir Knieschmerzen als Beispiel. Der Schmerz scheint klar in jenem Körperteil verortet zu sein, in dem wir ihn fühlen. Aber nicht nur das – wir reden auch so. Wir sagen zum Beispiel: Der Schmerz ist in meinem Knie. Wenn jetzt aber die Schmerzen wirklich im Gehirn wären, dann würden wir ja die ganze Zeit falsch über Schmerzen sprechen. Das heisst, entweder ist unser Alltagsverständnis wirklich anders und Schmerzen sind tatsächlich im Körper, oder wir müssen versuchen zu erklären, warum wir anders empfinden und reden, als es wirklich ist.

Zur Person

Kevin Reuter ist Philosoph und Kognitionswissenschaftler. Seit 2019 doziert er als Professor an der Universität Zürich. Seine Forschungsinteressen sind die Philosophie des Geistes (vor allem Schmerz und Emotionen), Sprachphilosophie, experimentelle Philosophie sowie rationale Entscheidungstheorie.

Was spricht denn dagegen, dass der Schmerz tatsächlich im Körper ist?

Ein Argument, das oft vorgebracht wird, ist: Es gibt keine ungefühlten Schmerzen, was dafür spricht, dass der Schmerz selbst ein Gefühl sein muss. Was passiert zum Beispiel, wenn ich eine Schmerztablette nehme? Ich fühle den Schmerz nicht mehr, somit muss er doch auch weg sein. Aber das ist nicht die verbreitete Auffassung unter Laien. In Experimenten zeigt sich viel eher: Der Schmerz ist weiterhin da, nur kann ich ihn eben nicht fühlen. Ein Vergleich dazu: Wenn ich ein rotes Auto anschaue und mich danach wegdrehe, sehe ich die Farbe nicht mehr. Trotzdem denke ich dann nicht: die Farbe ist jetzt weg. Ich habe nur diese Farbwahrnehmung nicht mehr, weil ich mir den Gegenstand nicht mehr anschaue. Genauso könnte ich beim Schmerz sagen: Verschwunden ist letztlich nur meine Schmerzerfahrung, das Leiden – nicht der Schmerz selber. Der Schmerz bleibt weiterhin da.

«Menschen haben verschiedene Konzeptionen von Schmerz.»

Sollten wir also anders über Schmerzen sprechen?

Ich glaube, es wäre schon viel damit geholfen, wenn wir gegenseitig ein bisschen mehr Sensibilität hätten. Denn Menschen haben verschiedene Konzeptionen von Schmerz. Wenn sich medizinisches Personal oder Pflegekräfte mit Patienten unterhalten, kommen Fragen wie: «Wo tut es Ihnen weh?» Die Patienten antworten dann vielleicht: «Der Schmerz ist die ganze Zeit da». Die Ärztin denkt also möglicherweise: Die Person fühlt den Schmerz die ganze Zeit. Und hier kann die Diskussion natürlich komplett aneinander vorbeigehen. Denn vielleicht meinte die kranke Person einfach nur, dass etwas im Körper die ganze Zeit da ist und es fühlt sich hin und wieder schmerzhaft an. Aber nicht, dass das Schmerzgefühl die ganze Zeit über vorhanden ist.

Zwischen Schmerzen fühlen und Schmerzen haben liegen offenbar noch weitere Unterschiede.

Genau. Ich habe mir grosse Textansammlungen angeschaut und darauf geachtet, wann Personen von Schmerzen haben sprechen und wann von Schmerzen fühlen. Die Lehrmeinung sagt ja, es gibt keinen Unterschied. Denn wenn man Schmerzen hat, fühlt man sie. Und wenn man Schmerz fühlt, dann hat man einen Schmerz. Aber in diesen Textansammlungen finden wir ganz grosse Unterschiede. Bei milden, geringen Schmerzen sagen die Leute eher: «Ich fühle einen Schmerz.» Und wenn sie einen grossen, intensiven, schlimmen Schmerz haben, sagen sie häufiger: «Ich habe einen Schmerz.» Dies deutet darauf hin, dass Personen eben diese Schmerzerfahrung vom Schmerz selbst unterscheiden.

Woher kommt diese Abstufung?

Wir sehen diese Schein-Sein-Unterscheidung auch in anderen Kontexten. Wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob irgendwas verbrannt ist, dann sage ich, «ich rieche einen verbrannten Toast.» Wenn ich mir aber absolut sicher bin, sage ich: «Da ist ein verbrannter Toast», «da ist Rauch» oder «da brennt es».

Ein Schmerz kann pochen, hämmern oder stechen. Solche Unterscheidungen müssten es einfach machen, richtig über Schmerzen zu sprechen.

Trotzdem ist es oft schwierig, ein gemeinsames Vokabular zu finden. Denn wenn wir über innere Zustände reden, können wir nur andeuten, wie wir etwas empfinden. Wir haben keine objektiven Kriterien. Wenn jemand sagt, «ich habe einen pochenden Schmerz», gibt es keine Möglichkeit, dies zu verifizieren. Wir müssen den Aussagen der Personen vertrauen. Niemand kann genau überprüfen kann, ob es wirklich ein Pochen oder ein Stechen ist. Und wenn das Gegenüber ein anderes Vokabular gelernt hat, seinen Schmerz zu beschreiben, gibt es natürlich auch hier wieder grosse Unterschiede. Anders wäre dies bei siamesischen Zwillingen.

Jetzt wird’s spannend…

In der Regel ist ja nur ein Kopf, ein Gehirn, mit einem Körper verknüpft. Es gibt aber siamesische Zwillinge, die haben zwei Gehirne, die mit dem gleichen, einen Körper verbunden sind. Die könnten sich theoretisch darüber austauschen, wie sich ein Schmerz im Körper für sie anfühlt. Weil es in diesem Falle zwei Bewusstseine sind, die mit einer Körperstelle verbunden sind. Das wären dann also möglicherweise zwei Schmerzerfahrungen, die aufeinanderprallen. Weil es aber nicht viele siamesische Zwillinge gibt, ist dies nach meinem Wissen kaum erforscht.

«Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass es bei emotionalen und körperlichen Schmerzen im Gehirn ein sehr grosses Überlappen der aktiven Areale gibt.»

Häufiger sind dafür Menschen mit chronischen Schmerzen. Ebenfalls ein Sonderfall?

Menschen mit chronischen Schmerzen sind insbesondere für das Verständnis von Schmerzen interessant. Es ist denkbar, dass sich das Schmerzverständnis Betroffener verändert, wenn sie ständig intensive Schmerzen erleben und sich auch permanent damit beschäftigen. Daher untersuchen wir momentan, ob chronische Schmerzpatienten ein ähnliches Schmerzverständnis haben wie medizinisches Fachpersonal.

Es gibt also «nur noch» Aktivität im Gehirn – und gar nicht mehr im Körper?

Bei vielen chronischen Schmerzpatienten ist nichts mehr im Körper, was irgendwie «schiefläuft». Das ist ja das unglaublich Frustrierende für viele: Der Körper ist gesund und geheilt und trotzdem empfinden diese Patienten starke Schmerzen. Und dann kommt bei Medizinerinnen, aber auch bei den Betroffenen selbst, wohl irgendwann der Gedanke auf: Wenn mit meinem Körper alles okay ist, dann muss der Schmerz offenbar im Gehirn sein – auch wenn es sich so anfühlt, als wäre er im Körper. Das hat in der Geschichte der Medizin wahrscheinlich dazu geführt, den Schmerz eher im Geist oder im Gehirn zu verorten und nicht so sehr im Körper – weil man mit der Verbesserung von diagnostischen Werkzeugen wie zum Beispiel den Röntgenaufnahmen gemerkt hat: Der Körper ist eigentlich geheilt, aber trotzdem ist die Schmerzempfindung noch da.

Ist das bei Phantomschmerzen ähnlich?

Wenn jemandem ein Bein amputiert wurde, und er empfindet am fehlenden Bein dennoch Schmerzen, scheint dies zunächst nur schwer nachvollziehbar. Gerade, wenn man ein sehr körperliches Verständnis von Schmerzen hat. Man fragt sich: Dieses Körperteil ist ja nicht mehr da, wie kann es sein, dass diese Person dort Schmerz empfindet? Doch die Erklärung ist relativ einleuchtend. Es gibt im Gehirn verschiedene Areale, die unsere Bewegungen in den Beinen, den Armen und so weiter steuern. Das Gehirn repräsentiert letztlich unseren Körper. Warum soll nicht auch ein Schmerz so repräsentiert werden, dass er in diesem Körperareal zu sein scheint? Als Philosoph taucht bei mir jedoch auch die typische philosophische Skepsis auf. Ich frage mich: Wenn mir das Gehirn so vieles vorspielen kann, also dass da noch ein zweites Bein ist und dass da ein Schmerz vorhanden ist, was ist eigentlich wirklich? Was kann ich eigentlich für bare Münze nehmen und was muss ich eher der Interpretation meines Gehirns zuschreiben?

«Es tut mir weh», sagen wir auch bei Liebeskummer. Sind emotionale Schmerzen echte Schmerzen?

Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass es bei emotionalen und körperlichen Schmerzen im Gehirn ein sehr grosses Überlappen der aktiven Areale gibt. Wenn ich also Liebeskummer habe oder den Tod einer nahestehenden Person betrauere, sind ähnliche Hirnareale betroffen wie bei Rücken- oder Knieschmerzen. Das deutet darauf hin, dass die Empfindungen zumindest sehr ähnlich sind, was auch rechtfertigt, bei Liebeskummer von Schmerzen zu sprechen. In der Philosophie ist man da etwas skeptischer. Wir denken, man sollte das Schmerzgefühl eher differenzieren von einem unangenehmen Gefühl.

Unangenehm ist aber beides – Liebeskummer und Rückenschmerzen…

Unbestritten, ja. Es fühlt sich nicht gut an, von seinem Partner verlassen zu werden, genauso wenig wie Knieschmerzen angenehm sind. Die Forschung ist hier aber noch nicht weit genug, um zu wissen, was genau in beiden Fällen in den betroffenen Regionen im Gehirn verarbeitet wird: der Schmerz oder das unangenehme Gefühl? Dass beides Schmerzen sind, dafür liefert die Sprachforschung klarere Argumente: Wir nutzen in beiden Fällen das gleiche Vokabular. Einerseits sagen wir: «Mein aufgeschürftes Knie tut mir weh», andererseits aber auch, «es tut weh, dass diese Person gestorben ist» oder «das gibt mir einen Stich ins Herz», beziehungsweise «es schmerzt mich, dass mich meine Partnerin verlassen hat». Allerdings könnte man beim Liebeskummer auch nachfragen: Meinst du das jetzt wortwörtlich oder vielleicht eher metaphorisch? Dann finden Sie eine Zweiteilung in der Bevölkerung – einen Clash von Konzeptionen, die aufeinandertreffen.

Wie ist es denn beim Broken-Heart-Syndrom – eine Erkrankung des Herzens, ausgelöst durch grossen emotionalen Stress?

Man hat sich in der Wissenschaft glücklicherweise davon verabschiedet, nur die mentale Komponente von Emotionen zu betrachten. Gerade in der Psychologie interessiert man sich sehr für die körperliche Komponente. Ein finnisches Forscherteam liess Personen bestimmte Emotionen, die stimuliert wurden, auf einer Körperkarte einzeichnen. Es zeigten sich grosse Übereinstimmungen darin, wo die Teilnehmenden Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Wut, Freude, Neid oder Stolz lokalisierten. Es scheint, dass jede Emotion ein ganz bestimmtes körperliches Profil hat. Wir kennen das aus unserem Alltag: Wenn ich mich freue, dann mache ich mich gross, vielleicht gehen meine Arme auseinander, denn ich möchte die Welt umarmen. Bei Wut verkrampft sich mein Magen und ich balle die Fäuste. Aber auch hier ist die Forschung noch nicht allzu weit fortgeschritten.

«Kinder haben offenbar ein sehr körperliches Verständnis von Schmerzen.»

Wenn Ihnen etwas weh tut – denken Sie heute anders darüber aufgrund Ihrer Forschung?

Nun, wenn man einen Spaziergang macht, denkt man ja auch nicht ständig: Das Grün hier im Park ist ja vielleicht gar nicht grün, vielleicht spielt mir dies mein Gehirn nur vor. Genauso ist es mit Schmerz. Wenn man sich am Stuhlbein den kleinen Zeh anschlägt, dann ist man in dem Moment einfach nur mit seinem Schmerz beschäftigt. Wenn ich aber mit meinen beiden kleinen Söhnen rede, versuche ich, sehr genau zuzuhören. Wie versuchen meine Kinder, Schmerzen auszudrücken? Kinder haben offenbar ein sehr körperliches Verständnis von Schmerzen.

Ein Beispiel?

Mein Sohn hat kürzlich gesagt: Papa, kannst du mal kommen, es tut weh. Da habe ich ihn gefragt, wo tut es denn weh? Und dann hat er angefangen, seinen Körper nach einer Schürfwunde abzusuchen. Das heisst, er hat es nicht aus seinem inneren Empfinden heraus gesagt. Also nicht: Ich spüre, dass da etwas an meinem Knie ist. Sondern er hatte kurz vergessen, wo eigentlich die Wunde war, und hat dann seinen Körper abgesucht, wo es wehtut. Bei Kindern dauert das eine Zeit, bis sie dieses Innere mit dem Äusseren zusammenbringen. Kinder stellen bei diesem Thema übrigens grossartige Fragen. Eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben.

Verraten Sie uns, welche?

Die Anekdote stammt aus einem Buch zur Kindesentwicklung. Das Kind sagt zu seiner Mutter: «Mama, ich habe Bauchschmerzen.» Die Mutter antwortet: «Leg dich doch auf die Couch, dann geht der Schmerz weg.» Und das Kind fragt: «Ja, aber wohin geht denn der Schmerz?» Ich finde das eine unglaublich nachvollziehbare Frage. Als Erwachsene meinen wir damit: Der Schmerz ist nicht mehr da, oder der Körper renkt sich wieder ein, sodass da keine Schmerzsignale mehr ans Gehirn geleitet werden. Aber eigentlich ist die Frage eine sehr gute. Was passiert denn tatsächlich? Geht der Schmerz dann woanders hin oder löst er sich in Luft auf? Da reden wir nicht sehr klar mit unseren Kindern darüber. Wenn Kinder solche spannenden Fragen stellen, merken wir oft selbst, wie unklar wir uns eigentlich selbst bei vielen Dingen sind.

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