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Kaum eine Umweltbelastung beschäftigt uns im Alltag so stark wie Lärm. Das zeigen Lärmklagen bei Fachstellen und Polizei. Dabei geht es häufig um den als sinnlos erlebten Lärm von Betrunkenen in der Nacht oder von rücksichtslosen Autoposern oder Motorradfahrern. Dauerhaft vorhandener Verkehrslärm hingegen führt weniger häufig zu Reklamationen – aber die Zahlungsbereitschaft, um solchen Lärm zu vermeiden, ist erstaunlich hoch. Pro fünf Dezibel Abnahme des Verkehrslärms steigen die Mietpreise in der Schweiz um ein Prozent.

Wie wichtig ein ruhiges Zuhause ist, hat man exemplarisch während des Covid-19 Lockdowns feststellen können. Während des Lockdowns war man mehr zu Hause und so nahmen im Frühling 2020 zum Beispiel in London Lärmklagen um fünfzig Prozent zu.

Martin Röösli

Der Umweltepidemiologe Martin Röösli forscht am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel. In seiner Arbeit befasst er sich unter anderem mit den Gesundheitsrisiken von Strahlung, Lärm, Pestiziden, Luftverschmutzung und vom Klimawandel.

Frappant ist aber, dass Lärm in den Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen nicht berücksichtigt wird. Die SDGs umfassen 17 Schwerpunkte mit 169 dazugehörigen Zielen. In keinem dieser Ziele ist Lärm erwähnt. Zum Vergleich: Luftverschmutzung findet richtigerweise Eingang in immerhin drei Schwerpunkte, nämlich Gesundheit (SDG 3), Städte (SDG 11) sowie nachhaltigen Konsum und Produktion (SDG 12). Für die Umsetzung der SDGs in der Schweiz sorgt die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Doch auch in diesem 74-seitigen Strategie-Dokument zur Agenda 2030 ist Lärm kein einziges Mal erwähnt.

Lärm beeinflusst fast alle SDGs

Offensichtlich ist hingegen, wie relevant Lärm im Zusammenhang mit den meisten Nachhaltigkeitszielen ist: Unbestritten erhöht Lärm das Risiko für stressbedingte Krankheiten wie Herzinfarkt, Diabetes und mentale Erkrankungen (SDG 3, Gesundheit). Und Lärm behindert auch die kognitive Entwicklung von Kindern und führt zu Verhaltensproblemen. Damit kompromittiert Lärm das Ziel der hochwertigen Bildung (SDG 4). In Bezug auf bezahlbare und saubere Energie (SDG 7) gibt es viele Ko-Benefits, aber auch gewisse Zielkonflikte, da Lärm von Windkraftwerken und Wärmepumpen schon bei relativ tiefen Pegeln zu Belästigungen führt. Andererseits sind Elektrofahrzeuge leiser als solche mit fossilen Brennstoffen, was sich vor allem bei tiefen Geschwindigkeiten positiv auswirkt. Lärmige Arbeitsplätze wiederum können im Extremfall ein Problem für menschenwürdige Arbeitsbedingungen sein (SDG 8), während Industrie, Innovation und Infrastruktur (SDG 9) ein wichtiges Element zur Entwicklung von innovativen Lösungen für Lärmprobleme sind. Dazu gehören zum Beispiel lärmarme Reifen und Strassenbeläge sowie leichtere Autos.

Drohnenaufnahme vom Bucheggplatz in Zürich.Unsplash / Patrick Federi

Der Individualverkehr ist nur einer von vielen Faktoren, die für Lärm sorgen.

In Anbetracht der ungleichen Betroffenheit durch Lärmbelastung und der zusätzlichen Kosten für ruhigen Wohnraum, ist Lärm ein Schlüsselelement zur Erreichung von weniger Ungleichheit (SDG 10). Nachhaltige Städte und Gemeinden (SDG 11) sind weniger lärmig, wenn die Wege kürzer sind und sie sich für den Fussgänger- und Veloverkehr eignen. Das wirkt sich dann wiederum auch positiv auf die Gesundheit aus (SDG 3). Massnahmen zum Klimaschutz (SDG 13) haben ähnlich wie solche für bezahlbare und saubere Energie (SDG 7) häufig auch Ko-Benefits für die Lärmbelastung. Elektrische Mobilität verringert den Lärm etwas. Noch effektiver dürften verschiedene Energiesparmassnahmen sein, wie zum Beispiel die Beschränkung des motorisierten Individual- und Flugverkehrs. Kaum untersucht ist bisher, wie sich Lärm auf Landökosysteme (SDG 15, Leben an Land) auswirkt. Die Beobachtung, dass sich der Vogelgesang in Kalifornien während des Covid-19-Lockdowns verändert hat, ist ein kleiner Indikator für diesbezügliche Effekte. Dasselbe gilt natürlich auch für Unterwasserlärm (SDG 14, Leben unter Wasser). Dass Lärm zu Stress, Ärger und Aggression führt, kann den Frieden und die Gerechtigkeit (SDG 16) stören. In Anbetracht all dieser Fakten wünsche ich mir, dass das Thema Lärm auch in der globalen Partnerschaft (SDG 17) prominenter auftreten würde.

Die Suche nach den Ursachen

Drei Hypothesen, warum Lärm, trotz hoher Relevanz bei den Nachhaltigkeitszielen, erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geniesst:

  1. Nachhaltigkeit im Umweltbereich wird häufig als generationenübergreifende Anhäufung von Schadstoffen verstanden. Lärm hingegen kumuliert physikalisch gesehen nicht. Damit geht vergessen, dass Planungssünden zu Lärmexpositionen führen können, welche über lange Zeit auftreten können.
  2. Wer Lärm nicht konkret erlebt, unterschätzt typischerweise dessen Wirkung auf die Lebensqualität. Entscheidungstragende haben typischerweise die Ressourcen, um dem Lärm auszuweichen und wissen nicht aus eigener Erfahrung, wie stark Lärm die Lebensqualität beeinträchtigen kann. Entsprechend wird Lärm zwar als lästig aber nicht als substanzielles Problem und Gesundheitsrisiko angesehen.
  3. Lärmforschung ist global gesehen marginal. So findet man in wissenschaftlichen Datenbanken rund zwanzigmal weniger Studien zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Lärm als zu Luftschadstoffen. Damit hat Lärm in wissenschaftlichen Gremien und im wissenschaftlichen Politaustausch kaum eine Stimme.

Verpasste Chance

Die Absenz von Lärm in der Nachhaltigkeitsdiskussion erachte ich als eine verpasste Chance. Einerseits führen viele Massnahmen zur Erreichung einer nachhaltigen Gesellschaft zu weniger Lärm. Hat man diesen zusätzlichen Nutzen im Blick – und lässt ihn in Kosten-Nutzen-Rechnungen einfliessen –, lohnen sich viele Massnahmen noch mehr, als sie es sonst schon tun. Dort wo es Zielkonflikte gibt, wie zum Beispiel bei Wärmepumpen und Windkraftanlagen, ist es hingegen umso wichtiger, diese im Blick zu haben und mittels technischer Innovationen von Anfang an zu minimieren – und nicht erst dann, wenn die Klagen und damit die Probleme auftreten. Ansonsten kommen solche Transformationen ins Stocken.

Immerhin sehe ich einen Lichtblick. Im Länderbericht der Schweiz an die Vereinten Nationen vom Mai 2022 ist Verkehrslärm als Indikator für das Monitoring im SDG 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden) erwähnt. Vielleicht findet Lärm also bald auch Eingang in die anderen SDGs und vor allem in die Strategie- und Massnahmendokumente zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele.

Klartext

Sechs hochkarätige Forscherinnen und Forscher schreiben im «Klartext» pointiert und faktenbasiert ihre Meinung zu einem selbst gewählten wissenschaftlichen Thema. Das wissenschaftliche Sextett setzt sich zusammen aus Dominique de Quervain, Neurowissenschaftler (Uni Basel), Sophie Mützel, Soziologin (Uni Luzern), Martin Röösli, Umweltepidemiologe (Swiss TPH), Monika Bütler, Ökonomin (Uni St. Gallen), Klimaforscher Reto Knutti (ETH Zürich) sowie Nikola Biller-Andorno, Professorin für Biomedizinische Ethik (Universität Zürich).
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