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«Data! data! data!» he cried impatiently. «I can’t make bricks without clay.» Wie ein roter Faden zieht sich diese Forderung nach besseren Daten von Sherlock Holmes im Buch «The Adventure of the Copper Beeches» von Arthur Conan Doyle auch durch die Aufbereitung der Covid-19-Krise. Denn: Zuverlässige und schnell verfügbare Daten sind für wissenschaftliche Grundlagen einer evidenzbasierten Politik unerlässlich. Nicht nur die Wirtschaftswissenschaften litten zu Beginn der Pandemie unter einem Mangel an geeigneten Daten. Noch stärker betroffen waren die Epidemiologie und die medizinischen Wissenschaften.

Monika Bütler

Die Ökonomin Monika Bütler ist Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen, bis Januar 2021 war sie dort ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre. In ihrer Forschung beschäftigte sie sich unter anderem mit der Altersvorsorge und politischen Ökonomie. Sie beteiligt sich häufig an der öffentlichen Debatte zu wirtschaftlichen und politischen Themen.

Doch es gibt auch Positives zu berichten aus der Pandemie. So waren die Ökonominnen schon nach kurzer Zeit in einer deutlich komfortableren Lage als die Epidemiologen. Dank Daten aus Registern sowie einer etablierten Zusammenarbeit mit den Behörden und der Privatindustrie in vielen Ländern – inklusive der Schweiz – konnten nicht nur Lücken geschlossen, sondern auch neue Erkenntnisse für Forschung und Anwendung gewonnen werden. Natürlich lassen sich die Erfahrungen aus einem Fachgebiet nicht eins zu eins auf andere Disziplinen übertragen. Ein kurzer Blick in die Datensituation der Ökonomik während der Pandemie lohnt sich dennoch.

Ein neues Mass für die Wirtschaftstätigkeit

Dass viele wirtschaftliche Aktivitäten nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie stillstanden, machte deutlich: Es fehlte an Messungen der Wirtschaftstätigkeit, die nur mit kurzer Verzögerung und sehr regelmässig verfügbar waren. Denn der übliche Massstab für die makroökonomische Leistung, zum Beispiel das Bruttoinlandprodukt BIP, war in einer sich schnell entwickelnden Krise wenig hilfreich.

Daten helfen, die Pandemie zu verstehen und ihre Auswirkungen darzustellen.

Glücklicherweise war eine Reihe von wirtschaftlichen Zeitreihen wie Finanzdaten, Indikatoren zur Mobilität und Energieverbrauch relativ schnell verfügbar. Geschickt kombiniert, können sie die Aussagekraft des BIP nachahmen. Bereits im März 2020 veröffentlichte die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich ein sogenanntes High Frequency Economic Monitoring Dashboard. Aus täglich erhältlichen Daten zur Mobilität der Menschen, zur Verkaufstätigkeit, anderen Wirtschaftstätigkeiten innerhalb der Schweiz sowie Auslandsreisen konstruierten die Ökonomen einen umfassenden Aktivitätsindikator. Alle Interessierten konnten diesen online studieren oder auch herunterladen.

Fast so gut wie das BIP

Das eidgenössische Sekretariat für Wirtschaft, das SECO, entwickelte selbst innert kürzester Zeit eine sinnvolle Alternative zum BIP. Der Index zur wöchentlichen Wirtschaftsaktivität WWA liefert seither zeitnahe Informationen zur Entwicklung der Schweizer Wirtschaft. Dabei kombiniert er Informationen zu neun Indikatoren: Bargeldbezüge, Elektrizitätsverbrauch, Luftverschmutzung, Nettotonnenkilometer des Eisenbahngüterverkehrs, Kartentransaktionen, registrierte Arbeitslose, bei der Schweizerischen Nationalbank gehaltenen Sichteinlagen, sowie Exporte und Importe von Waren. Der WWA kann das BIP zwar nicht ersetzen, weist aber eine hohe Korrelation mit dem realen BIP auf und ergänzt so die bestehenden Daten. Um die Daten zudem besser mit früheren Perioden vergleichen zu können, berechnete das SECO auch den WWA für die Zeit vor der Krise.

Neue Daten wurden zudem sehr detailliert erfasst und öffentlich zur Verfügung gestellt. Solche Informationen erlaubten es, den Verlauf bestimmter Sektoren während der Pandemie zu verfolgen. Ein besonders gelungenes Projekt war dabei Monitoring Consumption Switzerland, eine gemeinsame Initiative der Universitäten St. Gallen und Lausanne mit privaten Partnern. Das Projekt verwendet aggregierte und anonymisierte Zahlungsdaten, um die Konsumausgaben in der Schweiz und deren Auswirkungen durch die Covid-19-Krise zu beleuchten. So zeigte sich beispielsweise, dass die Einführung der Zertifikatspflicht zumindest in den Städten zu weit geringeren Umsatzeinbrüchen in Restaurants und Läden führte als befürchtet. Noch jetzt bietet die Plattform verschiedene Dashboards, Faktenblätter, weiterführende Analysen und umfassende Medienberichte in vier Sprachen.

Eine Spielwiese für die Forschung

Daten helfen, die Pandemie zu verstehen und ihre Auswirkungen darzustellen. Für Forscherinnen und Forscher bieten sie zudem die Grundlage für neue Fragen und Analysen, die später wieder in die Politikberatung einfliessen können. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren.

Im Gegensatz zu früheren Wirtschaftskrisen waren die Insolvenzraten in den meisten Branchen und Regionen deutlich niedriger als in der Vorkrisenzeit. 

Erstes Beispiel: Hat die Krise Firmeninsolvenzen beschleunigt? Oder haben sich im Gegenteil die Kompensationsmassnahmen als zu grosszügig erwiesen und so Zombie-Firmen am Leben erhalten? Um diese Fragen zu beantworten, untersuchten zwei Ökonomen der ETH anhand neuer, einzigartiger Registerdaten, wie häufig Firmeninsolvenzen und Neugründungen in der Schweiz waren. Der Clou dabei: Die Autoren wenden das aus der Epidemiologie entlehnte Konzept der Übersterblichkeit an, um die Häufigkeit von Konkursen über die Zeit abzuschätzen. Was sie finden, ist ebenfalls spannend: Im Gegensatz zu früheren Wirtschaftskrisen waren die Insolvenzraten in den meisten Branchen und Regionen deutlich niedriger als in der Vorkrisenzeit. Im Winter 2021 stieg die Konkurshäufigkeit jedoch wieder stark an. Die Zahl der neu gegründeten Firmen ist seit Sommer 2020 sogar deutlich höher als in der Zeit vor der Krise. Dies steht ebenfalls im Gegensatz zu den vorangegangenen Krisen wie etwa der Finanzkrise. Dabei wird die starke Gründungstätigkeit von Branchen getrieben, in denen die Pandemie zu strukturellen Anpassungen geführt hat, beispielsweise in der Gastronomie.

Unsplash / Aditya Wardhana

Die Anzahl der neu gegründeten Start-ups ist seit Sommer 2020 deutlich höher als noch in der Zeit vor der Pandemie.

Psychische Gesundheit der Bevölkerung in Echtzeit

Zweites Beispiel: Zu Beginn der Pandemie wurde oft die Befürchtung geäussert, dass die Massnahmen zur Eindämmung zu zusätzlichem Stress führen würden, der letztendlich genauso schädlich sein könnte wie das Virus selbst. Um diese Bedenken zu analysieren, verwendeten Forschende der Universität Lausanne und Freiburg im Breisgau Daten zu Anrufen bei telefonischen Beratungsstellen. Diese Form der Seelsorge – in der Schweiz «Die Dargebotene Hand» – liefert ein Echtzeitmass für durch die Pandemie ausgelöste Belastungen und psychische Gesundheitsprobleme. Die Resultate: Die Anzahl der Anrufe begann nach Ausbruch der Pandemie zu steigen und erreichte einige Wochen später ihren Höhepunkt. Unmittelbar mit der Pandemie verbundene Themen wie Angst vor Ansteckung, Einsamkeit und Sorgen um die körperliche Gesundheit scheinen die zugrunde liegenden Ängste eher ersetzt als verstärkt zu haben. Beziehungsprobleme, wirtschaftliche Probleme und Gewalt waren unter den Anrufen sogar weniger verbreitet als vor der Pandemie.

Die Anzahl der Anrufe begann nach Ausbruch der Pandemie zu steigen und erreichte einige Wochen später ihren Höhepunkt.

Eine einzige Plattform für die ganze Welt

Wahrscheinlich ist es angesichts dieser Suche nach besseren Daten in der Ökonomik kein Zufall, dass die weltweit mit Abstand wichtigste und zuverlässigste Datenplattform während der Krise, Our World in Data, von Ökonominnen und Ökonomen gegründet und grösstenteils noch immer von ihnen betrieben wird. Seien es epidemiologische oder ökonomische Daten, Gesundheitsmassnahmen oder Einschränkungen, die Informationen werden heute von vielen Disziplinen und fast allen Medien weltweit genutzt. Dass sie standardisiert erfasst und dargestellt sowie offen zugänglich und einfach zu nutzen sind, ermöglicht internationale Vergleiche sowie Analysen für einzelne Länder.

Die Erfolgsfaktoren vieler dieser Projekte in der Pandemie waren der Zugang zu privaten Datenquellen, die Verfügbarkeit qualitativ hochstehender Registerdaten sowie eingespielte Formen der Zusammenarbeit zwischen Behörden, privaten Firmen und Forschenden. Inwieweit bessere Daten und die auf ihnen beruhenden Analysen auch für die politische Entscheidungsfindung genutzt wurden und noch werden, steht auf einem anderen Blatt. Aber ohne gute Datenlage ist wissenschaftlich abgestützte Politikberatung zum Voraus zum Scheitern verurteilt.

Klartext

Sechs hochkarätige Forscherinnen und Forscher schreiben im «Klartext» pointiert und faktenbasiert ihre Meinung zu einem selbst gewählten wissenschaftlichen Thema. Das wissenschaftliche Sextett setzt sich zusammen aus Dominique de Quervain, Neurowissenschaftler (Uni Basel), Sophie Mützel, Soziologin (Uni Luzern), Martin Röösli, Umweltepidemiologe (Swiss TPH), Monika Bütler, Ökonomin (Uni St. Gallen), Klimaforscher Reto Knutti (ETH Zürich) sowie Nikola Biller-Andorno, Professorin für Biomedizinische Ethik (Universität Zürich).
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