Das schweizerische Gesundheitswesen ist eines der teuersten der Welt, mit einer bemerkenswert hohen Kostenbeteiligung der privaten Haushalte. Es ist daher nicht überraschend, dass die Überversorgung in der Schweiz fröhliche Urstände feiert. Das Potenzial, um die Effizienz ohne Qualitätseinbussen zu steigern, wurde allein im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung mit rund zwanzig Prozent beziffert.
Nikola Biller-Andorno
Angesichts der hohen Ausgaben überrascht, dass es auch in der Schweiz unterversorgte Bereiche gibt, in quantitativer und wie in qualitativer Hinsicht. So ist zum Beispiel die seit Jahren bekannte Unterversorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt worden.
Gemäss dem Commonwealth Fund International Health Policy Survey 2020, der sich mit dem Zugang zur Grundversorgung in den USA sowie zehn anderen Ländern mit hohem Einkommen befasst hat, haben erstaunliche 23 Prozent der Studienteilnehmenden aus der Schweizer im Jahr vor der Befragung auf Arztbesuche, Tests, Behandlungen oder verschreibungspflichtige Medikamente verzichtet – und zwar aus Kostengründen. Neun Prozent hatten, so die Studie, ernsthafte Probleme, im vergangenen Jahr ihre medizinischen Rechnungen zu bezahlen. Diese Prozentzahlen erscheinen im Vergleich mit den USA moderat, doch sind sie deutlich höher als in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Grossbritannien.
Daten zur Qualität fehlen vielfach
Doch nicht nur was den Zugang zu Leistungen, sondern auch die Qualität selbst betrifft, entsteht bisweilen der Eindruck, es gebe Luft nach oben. Doch wieviel und wo genau, ist mangels etablierter, risikoangepasster Qualitätsindikatoren oft unklar. Ein Bereich, für den dies seit Jahren beklagt wird, sind die Pflegeheim. Fachkundige Vergleiche wären für einen qualitätsorientierten Wettbewerb der Häuser untereinander ebenso wichtig wie für die aktuellen und zukünftigen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, die möglichst im ersten Anlauf eine optimale Wahl treffen wollen. Wenn inzwischen auch erste Schritte hin zu mehr Transparenz unternommen werden, so haben doch pflegewissenschaftliche Studien aus Bern und Basel gezeigt, dass die aktiven Bemühungen von Pflegeteams um Qualität durch den zunehmenden Personalmangel erschwert werden.
Zugegeben: Es geht hier um Klagen auf hohem Niveau. Das Gesundheitswesen ist ein komplexes System, das schwer perfekt auszutarieren ist. Viele Schweizerinnen und Schweizer sind sehr zufrieden sowohl mit ihrem eigenen Gesundheitszustand als auch mit ihrer Gesundheitsversorgung. Doch für die diejenigen, die suboptimal versorgt werden, ist es ein schwacher Trost, dass die Situation andernorts schlimmer ist.
Zu wenig Personal
Hinzu kommt, dass die Perspektiven nicht unbedingt rosig sind. Denn: der Personalmangel ist nicht nur in der Pflege, sondern auch in anderen Berufsgruppen ein Problem. In der Ärzteschaft und sogar bereits bei Medizinstudierenden wird verstärkt von Burnout berichtet. Versuche, die Resilienz der Betroffenen zu stärken, werden inzwischen zunehmend skeptisch gesehen.
Und in der Tat kann es nicht darum gehen, Mitarbeitende auf Biegen und Brechen zum Durchhalten zu motivieren. Vielmehr gilt es die belastenden Faktoren zu identifizieren und anzugehen. Ziel muss sein, das medizinische Versorgungssystem so zu gestalten, dass es sowohl an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert ist als auch für die Mitarbeitenden die Möglichkeit bietet, sich effektiv und nachhaltig im Sinne des Versorgungsziels einzubringen.
Es ist bekannt, dass die ökonomischen Anreize, die Vergütungssysteme mit sich bringen, Auswirkungen auf die medizinische Praxis haben. Damit geht häufig zugleich Druck auf Gesundheitsfachpersonen einher, medizinische Massnahmen durchzuführen, auch wenn sie unnötig sind, oder zu unterlassen, auch wenn sie nötig oder wenigstens hilfreich gewesen wären. Beides führt verständlicherweise zu moralischem Stress, der wiederum zu Burnout führen kann.
Medizin der Zukunft: sinnvoll und fair
So scheint die Antwort auf den Mangel an ärztlichen und nicht-ärztlichen Gesundheitsfachpersonen nicht im Resilienztraining oder in der Selektion der «Fittesten» zu liegen, sondern – neben adäquaten Arbeitsbedingungen – in einer angemessenen, sinnvollen Patientenversorgung, die im Einklang mit den eigenen moralischen Werten und Ansprüchen ausgeübt werden kann.
Passenderweise wird das Thema «Sinn» in der Medizin gerade wiederentdeckt. Dabei geht es nicht um metaphysische Fragen, sondern um eine faire, effiziente Versorgung, die den Bedürfnissen erkrankter Personen gerecht wird, auch und gerade wenn sekundäre Interessen in eine andere Richtung weisen – wenn eine Nacht länger oder kürzer im Spital mehr einbrächte oder das erneute Einbestellen der Betroffenen für diese zwar einen höheren Aufwand bedeutet, sich aber besser abrechnen liesse.
Eine solche Medizin bedeutet möglicherweise für manchen finanzielle Einbussen, hält aber eine dreifache Belohnung bereit: Wird weniger verschwendet, setzt das Ressourcen frei, die wir andernorts gut brauchen können. Zugleich steigt die Qualität der Versorgung. Und der Gewinn, der mit einer sinnvollen Tätigkeit einhergeht, ist – gerade für relativ gutverdienende Medizinerinnen und Mediziner – vielleicht sogar die stabilere Währung als ein paar Prozent mehr oder weniger Einkommen. Denn wie der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl nicht müde wurde zu betonen: Sinn ist eine existentielle Kategorie, die uns trägt, wenn alle Stricke reissen. Ein solches Rüstzeug können wir für aktuelle und künftige Krisen gut gebrauchen.