Das musst du wissen

  • Seit längerem nimmt das Fachwissen über die Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz ab.
  • An den Hochschulen wird nicht mehr überall das gleiche Grundwissen über die Tier- und Pflanzenwelt vermittelt.
  • Eine Strategie soll helfen, die verschiedenen Bildungsangebote zu vernetzen – und die Zahl der Fachleute zu erhöhen.
Den Text vorlesen lassen:

Frau Rutte, Sie sagen, es fehlt an Experten, die einheimische Arten bestimmen können. Seit wann zeichnet sich dieser Mangel ab?

Schon seit Längerem – das ist kein Problem, das plötzlich aufgetaucht ist. Die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz hat schon 2007 auf diesen Mangel hingewiesen und ein Faktenblatt zur Zukunft der Systematik – also der Einteilung von Lebewesen – in der Schweiz veröffentlicht. Darin wurde bereits auf die Krise der Systematik eingegangen und es wurden auch schon Massnahmen vorgeschlagen, um Artenkenntnisse zu fördern. Leider ist seither nicht sehr viel passiert.

Claudia Rutte

Claudia Rutte ist promovierte Biologin und Zoologin. Sie hat in Deutschland studiert und sich an der Universität Bern inhaltlich auf Verhaltensökologie spezialisiert. Seit Juni 2021 ist sie Leiterin der Plattform Biologie der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.

Nennen Sie uns ein paar Beispiele aus der Praxis – in welchen Situationen braucht es Spezialisten für einheimische Arten?

Zum einen beim Biomonitoring. Dieses erfasst und bewertet Veränderungen unserer Umwelt mithilfe von Arten. Wenn bestimmte Arten an einem Ort vorhanden sind oder fehlen, kann man dadurch die Qualität eines Lebensraumes bestimmen. Ein konkretes Beispiel ist die nationale Beobachtung der Oberflächengewässerqualität (NAWA) des Bundes. Diese nutzt zum Beispiel die Gesamtheit der wirbellosen Tiere am Gewässergrund als Indikator für die Wasser- und Lebensraumqualität der Schweizer Gewässer.

Und sonst?

Auch in der Forst- und Landwirtschaft, der Fischerei oder der Aquakultur braucht es Artenkenntnisse. Etwa, wenn es darum geht, Gegenspieler zur Kontrolle von Schädlingen zu finden. Auch für unsere Ernährungssicherheit braucht es gute, zuverlässige Sorten und Varietäten, zum Beispiel beim Getreide. Gerade mit den Klimaveränderungen wird es immer wichtiger zu wissen, welche Art oder Varietät sich lohnt, weiter anzubauen. Dann brauchen auch Pharmakologen Artenkenntnisse: Sie isolieren aus Tier- und Pflanzenarten Wirkstoffe als Basis für neue Medikamente. Ethnobotaniker sind hier ebenfalls sehr gefragt. Und ein ganz grosser Bereich ist natürlich der Arten- und Lebensraumschutz und die Biodiversitätsforschung – beides ist ohne Artenkenntnisse gar nicht möglich.

An welchen Artenkenntnissen fehlt es?

Die Situation mit dem Mangel an Fachkräften ist laut Claudia Rutte sowohl in der Tier- als auch in der Pflanzenwelt ähnlich akut. In der Pflanzenwelt fehlt es vor allen Dingen an Fachleuten für die sogenannten Kryptogame – das sind Moose, Flechten und Pilze, also teils sehr kleine Pflanzen. Gut abgedeckt ist die Schweiz dafür bei den Gefässpflanzen – darunter fallen zum Beispiel Farne, Bäume, Blütenpflanzen und Gräser. Es gibt viele Leute, die Feldbotanik zu ihrem Hobby zählen, deswegen gibt es hier immer wieder einzelne Experten und Spezialisten. In der Tierwelt sind die Vögel sehr gut abgedeckt – hier gibt es viele Hobbyornithologen, deren Kenntnisse über die eines Laien hinausgehen. Den Herpetologen, also jenen Fachleuten, die sich mit Amphibien und Reptilien auskennen, geht es ebenfalls noch gut. Aber langfristig braucht es auch hier genug Nachwuchs. Wo es vor allem Probleme gibt in der Tierwelt, ist bei den wirbellosen Tieren, den Mollusken, also etwa Schnecken. Zudem sind die Insekten laut Claudia Rutte das grosse Sorgenkind in der Tierwelt. Erstens gibt es eine riesengrosse Vielfalt von Gruppen, darunter einzelne, für die finden sich gar keine Experten. Zweitens müsse man bedenken: Nicht nur die Insekten an Land sind wichtig, sondern auch jene in unseren Süssgewässern. Experten für Köcherfliegen oder Steinfliegen etwa gibt es in der Schweiz nur sehr wenige.

Artenschutz – geht es da auch um Listen von bedrohten Tieren und Pflanzen?

Genau, der Bund hat hier einen klaren Auftrag. Die Behörden müssen rote Listen gefährdeter Arten erstellen lassen oder das Management von bedrohten Arten organisieren. Und da braucht es echtes Expertenwissen. Die Schweiz ist zudem eines der ersten Länder, das ein Biodiversitätsmonitoring durchführt. Damit wird landesweit die langfristige Entwicklung der Artenvielfalt erhoben, anhand ausgewählter Pflanzen- und Tierarten. Ein solches Monitoring ist Pflicht für alle Länder, welche die Biodiversitätskonvention unterschrieben haben. Hier hat die Politik einen ganz klaren Auftrag gestellt. Und damit wir diesen erfüllen können, brauchen wir Leute, die diese Arten auch sicher bestimmen können. Monitoring-Programme sowie auch solche roten Listen bedrohter Arten bilden letztlich die Grundlage für die Naturschutzpolitik.

Das Wissen über die Tier- und Pflanzenarten umfasst aber wohl viel mehr als nur das reine Zuordnen, oder?

Richtig. Es reicht nicht aus, die Art einem Namen im Lehrbuch zuordnen zu können. Artenkenntnis bedeutet auch, dass man die Ökologie dieser Pflanzen und Tiere kennt, ihre Ansprüche an den Lebensraum, die Fang- und Bestimmungsmethoden im Feld beherrscht. Deswegen ist es keine reine Taxonomie oder Systematik. Darum heisst die neue nationale Strategie auch «Strategie für Artenkenntnisse», denn dieses Wissen soll auch wirklich praxisrelevant gesichert sein.

Wie ist es denn dazu gekommen, dass sich immer weniger Personen mit einheimischen Arten auskennen?

Ursprünglich war es Bestandteil von Hochschulstudiengängen, Artenkenntnisse zu vermitteln respektive solche Fachpersonen auszubilden. Zum einen, um den wissenschaftlichen Nachwuchs heranzuziehen, zum anderen für angehende Lehrkräfte. Heute aber kann man Artenkenntnisse längst nicht mehr nur an der Uni erlangen – man braucht nicht mehr zwingend einen Hochschulabschluss. Vielmehr wird das Feld abgedeckt von Fachhochschulen, Museen, dem Schweizerischen Informationszentrum für Arten InfoSpecies, privaten Anbietern, von NGOs und so weiter. Grundsätzlich kann dort jeder einen Kurs machen und Prüfungen ablegen, um sich auszubilden und zu spezialisieren.

Es ist also nicht mehr zwingend das klassische Biologie- oder Zoologiestudium, das einen zum Experten macht?

Die biologischen Wissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark diversifiziert und spezialisiert. Sie haben sich neuen Anforderungen und Gebieten in der Forschung angepasst und haben mittlerweile andere Prioritäten in der Forschung und der Lehre als die klassische Systematik, die für die Artenkenntnisse zentral ist. Deswegen sind auch Lehrstühle, die so systematisch taxonomisch ausgerichtet waren, abgebaut worden. Vor allem die praxisbezogene Ausbildung wie Exkursionen und Bestimmungsübungen sind für die Artenkenntnisse zentral, aber auch aufwendiger als Vorlesungen.

Kleine Pilze auf einem moosbewachsenen UntergrundUnsplash / Nina Plobner

Es fehlt beispielsweise an Fachleuten für Pilze, Moose und Flechten.

Das heisst, diese Grundkenntnisse zur Tier- und Pflanzenwelt sind an den Hochschulen ein Stück weit verloren gegangen?

Genau, die Unis haben ursprünglich vor allen Dingen in der Grundausbildung eine wichtige Rolle gespielt. Es ist zwar nicht so, dass die Unis dies heute gar nicht mehr anbieten. Es gibt mittlerweile ja neuere Studiengänge wie Ökosystemwissenschaften, Umweltwissenschaften, Naturschutzbiologie, oder auch in der Botanik viele Masterstudiengänge, in denen durchaus noch Artenkenntnisse vermittelt werden. Aber nach Aussen ist kaum mehr sichtbar, welche Artenkenntnisse genau Teil des Studiums sind, in welcher Tiefe und für welche Organismengruppen. Wenn man sich heute auf der Webseite einer Universität über den Inhalt eines Studiengangs informieren will, muss man wirklich detailliert schauen und lange suchen, um zu sehen, was genau an Artenkenntnissen gelehrt wird. Dies soll künftig sichtbarer werden. Zum Beispiel braucht es eine zentrale Anlaufstelle, auf der alle Kurse und Angebote aufgeführt sind, die in der Schweiz Artenkenntnisse vermitteln. InfoSpecies hat hierfür bereits ein online Kursprogramm aufgebaut, das nun laufend erweitert, besser bekannt gemacht und genutzt werden soll.

Gibt es sonst schon konkrete Massnahmen?

Es geht in einem ersten Schritt darum, die verschiedenen Bildungsanbieter, also Universitäten und Fachhochschulen, Museen und botanische Gärten, Daten- und Informationszentren von InfoSpecies, Fachgesellschaften, Vereine und private Bildungsanbieter, zusammenzubringen, Partnerschaften zu etablieren und die wichtigsten Lücken aufzuzeigen. Wo braucht es zum Beispiel Zertifizierungen als Leistungsausweis, damit Interessierte auch einen Anreiz haben, sich ausbilden zu lassen? Wie können die Universitäten mehr Transparenz schaffen für ihre Lehrgänge? Praxis und Ausbildung müssen besser miteinander verzahnt werden. Weiter braucht es ein nationales Register, in dem auch die Fachleute erfasst werden. Und es geht auch darum, Mentoringprogramme aufzusetzen – dass man Leute, die ein «Super-Wissen» haben, mit dem Nachwuchs zusammenbringt.

Das Fernziel ist letztlich, die Zahl der Fachleute mit Artenkenntnissen zu erhöhen – ab wann könnte die Wende kommen?

Realistisch sind vielleicht zehn Jahre. Es gibt ja genug junge Leute, die Interesse haben, und die man jetzt einfach abholen muss. Wenn wir es schaffen, die Leute zu motivieren, auf Kursprogramme hinzuweisen und auf berufliche Perspektiven, die sie mit erworbenen Artenkenntnissen haben, dann ist es durchaus denkbar, dass diese sich in etwa zehn Jahren zu Fachpersonen spezialisiert haben. Das wäre hilfreich, denn gegenwärtig sind viele Fachleute im höheren Lebensalter. Die gehen in zwei, drei Jahren in Pension, womit sich die Lage noch verschärfen dürfte. Der Mangel an Artenkenntnissen wird also noch viel akuter. Ziel ist auch, dass die Kinder künftig in den Schulen mehr über die einheimische Tier- und Pflanzenwelt lernen – denn auch dies ist aktuell ungenügend.

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