Das musst du wissen

  • Pumpspeicherkraftwerke können eines der zentralen Probleme der Energiewende lösen – die Zwischenspeicherung.
  • Im Gegensatz zu Sonnen- und Windenergie stellen Wasserkraftwerke aber einen erheblichen Eingriff in die Natur dar.
  • Mit dem Gletscherschwund entstehen neue potenzielle Standorte – der Streit um deren Nutzung ist bereits entbrannt.
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Was wäre die Schweiz ohne die Alpen? Die Bergwelt ist für die Schweiz vergleichslos bedeutend: als nationales Symbol identitätsstiftend, als Tourismusmagnet gewinnbringend, als Naturraum schützenswert – und essenziell für die Energieproduktion. So viele Interessen bergen grosses Konfliktpotenzial. Deswegen schwelt seit Jahren ein Streit um die Energiezukunft der Schweiz, der jüngst durch den Ukrainekrieg neu angefacht wurde. Es besteht dringender Bedarf an neuen Speicherkapazitäten, sagen die einen – doch das darf nicht auf Kosten unserer Natur gehen, warnen die anderen. Dazwischen bewegt sich die Politik auf einer schwierigen Gratwanderung. Ist Wasserkraft Fluch oder Segen?

Wasserkraft um jeden Preis

Der Widerstand gegen Wasserkraftwerke hat in der Schweiz eine lange Geschichte: Schon in den Fünfzigerjahren protestierte die Bevölkerung gegen das Kraftwerk Rheinau, das die Flusslandschaft unterhalb des Rheinfalls dauerhaft beeinträchtigte – erfolglos. Einen wichtigen Erfolg errang der Naturschutz schliesslich in den Achtzigerjahren: Damals sollte ein Stausee die Greina-Ebene fluten, eine in den Alpen einzigartige, von Menschenhand kaum berührte Hochebene. Aufgerüttelt durch die breit unterstützten Proteste gab der Bund eine Studie in Auftrag. Die Verfasser kamen zum Schluss, dass die Greina «absolute Schutzwürdigkeit» verdiene. Die Greina wurde zum Wendepunkt: Das Stauseeprojekt wurde gekippt – und die Elektrizitätswirtschaft musste einsehen, dass Projekte, die einen zu tiefen Eingriff in die Natur bedeuten, nicht mehr umsetzbar sind.

Angetrieben vom Klimawandel, entstehen mit dem Gletscherschwund neue geeignete Standorte für Stauseen, die bis vor Jahren noch unter einer dicken Eisschicht lagen.

Doch die Diskussion fand mit der Abfuhr für den Greina-Stausee keinen Abschluss: Denn der Klimawandel hat den Druck auf eine Abkehr von fossilen Brennstoffen erhöht. Zur Freude des Naturschutzes sind die Bestrebungen zur Energiewende intensiver denn je. Gleichzeitig aber hat sich die Ausgangslage in den Gebirgstälern verändert: Angetrieben vom Klimawandel, entstehen mit dem Gletscherschwund neue geeignete Standorte für Stauseen, die bis vor Jahren noch unter einer dicken Eisschicht lagen. Ein solches Gletschertal hat sich unterhalb des Triftgletschers im Berner Oberland gebildet. Dort befindet sich auch eines der am weitesten fortgeschrittenen neuen Staudammprojekte. Würde es realisiert, wäre es der erste neue Speicherstausee der Schweiz seit den siebziger Jahren.

KWO / David Birri
Luftaufnahmen Triftgebiet, Sustengebiet und Gadmental mit Gadmer Dolomiten.
KWO / David Birri
Wie der potentielle Staudamm aussehen könnte. Hier bei niedrigem Wasserspiegel.
KWO / David Birri
Und hier bei hohem Wasserspiegel.

Nach den allermeisten Gesichtspunkten liegt vor dem Triftgletscher ein idealer Standort für ein Kraftwerk: Ideal, weil sich im neu entstandenen, engen Gletschertal mit einem kleinen Damm viel Wasser speichern lässt. Ideal, weil derzeit an zahlreichen Gletschern ähnliche Pioniergebiete entstehen und das Gletschervorfeld somit kein Alleinstellungsmerkmal besitzt. Und schliesslich wird der Gletscherbach, das Triftwasser, bereits heute von den Kraftwerken Oberhasli KWO angezapft – mit 13 Wasserkraftwerken ist das Flusssystem unterhalb der Trift schon nicht mehr naturbelassen. Von allen Projekten, die am Runden Tisch zur Wasserkraft von Umweltministerin Simonetta Sommaruga als denkbar eingeordnet wurden, würde die Trift zudem am drittmeisten Strom liefern. Ideal aus Sicht des Bundes also, doch die Meinungen bei Umweltverbänden wie Aqua Viva und dem lokalen Triftkomitee sind schon lange gemacht: Sie lehnen das Projekt auch nach langem hin und her mit den Behörden ab. Denn jedes neue Kraftwerk ist ein Eingriff ins Ökosystem – und jeder neue Eingriff geht den Naturschutzverbänden zu weit. Aqua Viva ging aus dem Rheinaubund hervor, der einst im erfolglosen Kampf gegen das Rheinkraftwerk entstand, und kämpft somit seit mehr als einem halben Jahrhundert gegen den Ausbau der Wasserkraft. «Der pauschale Ausverkauf unserer Gewässerlandschaften muss ein Ende haben», sagt die Aqua-Viva-Geschäftsleiterin Salome Steiner.

Erwiesene Umweltprobleme

Wasserkraftwerk bleibt nie ohne negative Auswirkungen für das Ökosystem – das ist wissenschaftlich erwiesen. Das Bundesamt für Umwelt BAFU führt die grössten Probleme auf.

Schwall und Sunk: Speicherstauseen generieren nicht kontinuierlich Energie, sondern abhängig vom Bedarf. Während Speicherphasen ist der Abfluss unterhalb des Stausees auf ein Minimum reduziert, die Wissenschaft spricht von Sunk. Demgegenüber stehen die Phasen der Stromproduktion, während derer sich der Abfluss zwecks Stromproduktion deutlich erhöht – das ist der Schwall. Für die Organismen in den Bächen ist dies ein schneller Wechsel von Hochwasser- und Trockenheitsphasen. Während die hohe Fliessgeschwindigkeit im Schwall viele Organismen wegspült, fallen wichtige Lebensräume im Sunk trocken. Beides beeinträchtigt das Ökosystem

Fischgängigkeit: Vor allem Laufwasserkraftwerke, die die Wasserkraft in grösseren Flüssen nutzen, stellen Barrieren für Fische dar: Über Staustufen können sie höher gelegene Gebiete nicht mehr erreichen. Wasserkraftwerke sind nur einer von vielen Gründen für den Verlust der Fischgängigkeit Bei Stauseen im Gebirge spielt die Fischgängigkeit hingegen oft keine Rolle: Bergbäche wie beispielsweise das Triftwasser sind aufgrund des hohen Gefälles nicht von Fischen bewohnt

Geschiebehaushalt: Abhängig vom Abfluss und dem Gefälle transportiert ein Gewässer unterschiedlich grosse Steine – von feinem Sand bis hin zu grossem Geröll. Mit den jährlich unterschiedlichen Abflussmengen in den verschiedenen Jahreszeiten lagert und verschiebt ein Gewässer so grosse Mengen an Material. Dieser natürliche Prozess ist für die Gewässerökologie sehr bedeutend, da viele Lebewesen in den Hohlräumen zwischen verschieden grossen Festkörpern Schutz finden. Staumauern halten den Grossteil des Geschiebes zurück und verändern das saisonale Abflussregime, wodurch sich der Lebensraum am Gewässergrund stark verändert

Auch der Bund setzt für eine Verringerung der negativen Einflüsse der Wasserkraftnutzung ein. Denn die schädlichen Wirkungen sind wissenschaftlich erwiesen: Schwall und Sunk, der Wechsel zwischen Wasserablassen und -speichern, schädigt das natürliche Gleichgewicht im Abfluss. Mit den wechselnden Wasserständen verändert sich auch der Geschiebehaushalt, also die Art der Gesteine, die ein Fluss transportiert. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf den Unterwasser-Lebensraum, der für viele Kleinstlebewesen unersetzlich ist. Schliesslich können vor allem Flusskraftwerke für Fische ein unüberwindbares Hindernis sein. Daher hat der Bund mit der Revision des Gewässerschutzgesetzes 2011 die Kraftwerkbetreiber verpflichtet, den umweltschädigenden Effekten der Wasserkraft besser vorzubeugen: Unter anderem sollen die negativen Einflüsse von Schwall und Sunk verringert und die Fischgängigkeit verbessert werden. Aqua Viva begrüsst diesen Schritt, kritisiert aber auch dessen Umsetzung: «Der Vollzug geht nur schleppend voran und es gibt immer wieder Versuche, die gesetzlichen Vorgaben aufzuweichen», kritisiert Steiner. Deswegen kommt ein Ausbau für Aqua Viva nicht in Frage.

Der richtige Strom zur richtigen Zeit

Aus Sicht des Naturschutzes spricht also vieles gegen die Wasserkraft, und trotzdem verschwindet sie nicht aus der Diskussion. Dabei bietet die Natur weitere erneuerbare Energien an – Solar- und Windkraftwerke stellen einen deutlich geringeren Eingriff ins Ökosystem dar. Doch sie haben ein entscheidendes Problem, das Wasserkraftwerke lösen können: Die Stromspeicherung.

Bereits heute hat die Schweiz im Sommer einen Überschuss an Strom und im Winter ein Defizit – das Ungleichgewicht dürfte sich mit der Energiewende noch vergrössern: Gerade Sonnenenergie ist im Sommer deutlich mehr vorhanden – und auch Windenergie kann das Defizit nicht abfangen. Der Strom muss also für den Winter gespeichert werden. Und die einzige marktreife Technologie für die langfristige und umfangreiche Stromspeicherung ist bislang die Pumpspeichertechnologie – also Stauseen. Zwar gibt es auch andere Speicherformen, doch die haben im Vergleich dazu grosse Nachteile: Batteriespeicher sind um Grössenordnungen teurer. «Power to Gas», also die Erzeugung eines Treibstoffs durch Strom, der wieder in Energie umgewandelt werden kann, steckt noch in den Kinderschuhen und ist deutlich ineffizienter. Zwar wird an weiteren alternativen Technologien geforscht – doch keine kann auf absehbare Zeit ähnliche Kapazitäten zur Verfügung stellen wie Stauseen.

Daher setzt der Bund im Rahmen der Energiestrategie auch auf Wasserkraft: 2050 soll die Schweizer Stromversorgung klimaneutral sein. Ein ambitioniertes Ziel – aber ein Ziel, das das Bundesamt für Energie BfE bereits durchgerechnet hat. «Die Ziele können nur erreicht werden, wenn alle Potenziale zum Ausbau sowie die Möglichkeiten, welche sich durch Effizienzsteigerungen ergeben, genutzt werden», heisst es vom BfE auf Anfrage. «Aus unserer Sicht ist deshalb ein Ausbau der Wasserkraft notwendig.» Schätzungen des Bundesamts zufolge beträgt dieses Potenzial basierend auf konkreten und in ihrer Umsetzung realistischen Neubauprojekte bei der Wasserkraft fünf Prozent. Realistisch heisst hier, dass diese Projekte innerhalb der Umweltverträglichkeitsstandards von den Behörden als möglich erachtet werden – oder anders gesagt aus Sicht des Bundes noch umweltverträglich sind.

China: Riesiges Potenzial auf Kosten der Umwelt


Lässt man alle Bedenken beiseite, wäre das Potenzial der Wasserkraft auch in der Schweiz viel höher – das beweist China: Die Schlagzeilen vom Bau des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtsekiang gingen vor zehn Jahren um die Welt. Doch es war nur eines von vielen Projekten: Mittlerweile macht rund ein halbes Dutzend Staumauern den Mittellauf des Jangtsekiang zu einer Stauseenkette.
Die Konsequenzen sind dramatisch: Die Wasserqualität sinkt, da sich durch die verringerte Fliessgeschwindigkeit Schadstoffe anstauen. Bedrohte Tierarten sterben aus, darunter wohl auch der chinesische Flussdelfin.
Auch sozial hat die Nutzung des gesamten Wasserkraftpotenzials dramatische Auswirkungen: Weit mehr als eine Million Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Auch in anderen Ländern wie Brasilien oder Äthiopien zeigt man sich beim Bau neuer Mega-Staudämme wenig zimperlich. Würde in der Schweiz so vorgegangen, könnte das Wallis auf diese Weise zum Grosskraftwerk werden: Eine Rhone-Staustufe bei Martigny, eine unterhalb von Brig, und die Schweizer Energiesorgen wären passé – ebenso wie die Flusslandschaften, Biotope und Siedlungen des Wallis.

Doch: Geht es nach Aqua Viva, gibt es Alternativen. «Statt eine gute, aber ausgereizte und biodiversitätsschädigende Technologie wie die Wasserkraft weiter zu subventionieren, müssen wir endlich in den Ausbau ökologisch verträglicher Energieformen, in Energieeffizienz und das Energiesparen investieren», entgegnet die Aqua-Viva-Geschäftsführerin. Gerade bei der Optimierung von Gebäuden oder bestehenden Anlagen sowie beim Solarstrom sei das Potenzial aus ihrer Sicht enorm. Die Gewässerschutzorganisation betont zudem, dass es bereits bewilligte und von den Umweltverbänden nicht bekämpfte Grossprojekte gebe, welche jedoch nicht umgesetzt werden – beispielsweise die Erhöhung des Stausees Göscheneralp oder die Vergrösserung des Wasserkraftwerks Brusio.

Was sind wir bereit zu opfern?

Sparsamere Geräte, mehr umweltverträgliche Energie – diese Vorsätze sind zweifelsohne gut. Die Frage bleibt, ob dieser Aufwand genügt: Viele Klimaschützer argumentieren, dass im Kampf gegen Erderwärmung und Klimawandel alle Massnahmen ausgeschöpft werden müssen. Pumpspeicherkraftwerke ebnen zwar den Weg für die Herausforderungen der Energiewende, doch sie schaden unserer Natur. Wir befinden uns in einem Dilemma: Wie viel Natur wollen wir opfern, um das Klima zu schonen? «Beide Probleme lassen sich nicht gegeneinander ausspielen», betont Steiner von Aqua Viva. «Ein intaktes Ökosystem ist für uns Menschen genauso wichtig wie ein lebensfreundliches Klima.» Was das bedeutet, bleibt eine Frage der Perspektive.

Zurück zum Triftgletscher: Die Pläne der Kraftwerke Oberhasli zum Bau des neuen Pumpspeichersees sind bereits sehr konkret: Der Katalog von Ausgleichmassnahmen für die Kompensation der umweltschädlichen Wirkung wurde bereits von den Behörden sowie von Naturschutzorganisationen, darunter dem WWF, abgesegnet: Die Kraftwerkbetreiber verpflichten sich, mehrere andere Wildbäche zu renaturieren respektive ihren naturbelassenen Zustand zu erhalten. Ohnehin wäre es in der bereits jetzt von der Wasserkraftgewinnung geprägten Region ein Projekt mit vergleichsweise geringen Folgen. Der kleine, steile Gletscherbach, das Triftwasser, ist schon heute nicht mehr naturbelassen. Ebenso wie das nächstgrössere Gewässer, das Gadmerwasser, das stark von den 13 Kraftwerken in seiner Umgebung geprägt ist. Die neuen Vorschriften zur Verminderung der negativen Einflüsse von bestehenden Kraftwerken wurden bereits in Form eines neuen Ausgleichsbeckens umgesetzt. Zudem würde der Stausee das tiefergelegene Tal vor Hochwasserereignissen schützen.

Trotzdem herrscht in der Trift Stillstand. Ende 2020 hat das Bundesgericht die beiden Projekte in der Region auf Beschwerde von Aqua Viva und der Schweizerischen Greina-Stiftung gestoppt – die verschiedenen Nutz- und Schutzinteressen müssen jetzt noch im für die Nutzung verbindlichen kantonalen Richtplan festgehalten werden. Aqua Viva begrüsst den Gerichtsentscheid – die Kraftwerkbetreiber kontern: «Es ist unseres Erachtens zentral, dass Projekte wie beispielsweise jenes an der Trift, zeitnah realisiert werden, damit die Versorgungssicherheit in der Schweiz gewährleistet ist.» Doch obwohl die Trift in vielerlei Hinsicht besser Karten hat als andere Standorte, liegen die Pläne auf Eis, während der Gletscher weiter schmilzt. Im kleinen Gletschervorfeld spiegelt sich das grosse Dilemma der Energiewende wider.

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