Das musst du wissen

  • Die Archäologie befasst sich entgegen landläufiger Meinung nicht nur mit der Vergangenheit.
  • Wenn aktuell wegen des Klimawandels Überschwemmungen drohen, ist archäologisches Wissen bedeutend.
  • Auch zeigen Fachleute, dass manchmal an absurden Orten gebaut wird.

Die Archäologie dreht sich nicht nur um alte Steine. Ihre Rolle an der Schnittstelle zwischen Geisteswissenschaften, Raumplanung und Bauwesen ist viel aktueller, als man denkt. Für Archäologe und Historiker Marc-Antoine Kaeser, Professor an der Universität Neuenburg, spielt die Archäologie auch eine Schlüsselrolle beim Klimawandel. Dies, indem sie die Erinnerung an die Gebiete und ihre Veränderungen wachhält. Er widmet diesem Thema einen Essay, der kürzlich von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften veröffentlicht wurde. Im Interview schildert er, welche Rolle zum Beispiel jahrhundertealte Flussverläufe spielen.

Herr Kaeser, wir stellen uns die Archäologie eher als eine Wissenschaft vor, die sich mit der Vergangenheit befasst, als eine Wissenschaft der Nachhaltigkeit. Gab es einen Auslöser für die Erkenntnis, von der Sie in dem Buch berichten?

Marc-Antoine Kaeserunine.ch

Der Archäologe und Historiker Marc-Antoine Kaeser ist Professor an der Universität Neuenburg.

Wir hatten vor einiger Zeit ein internationales Projekt ins Leben gerufen, das sich mit der Urgeschichte und dem Klima befasste. Damals habe ich mich gefragt: Unter welchen Bedingungen ist die Archäologie legitimiert, sich zu diesen Themen zu äussern? Ich wollte nicht, dass es sich um eine reine Modeerscheinung handelt. Ich kam zum Schluss, dass die prähistorische Archäologie tatsächlich einen relevanten Diskurs über den Klimawandel zu führen hat.

Inwiefern?

Erstens, weil wir in der Archäologie an der Erhaltung des Landes arbeiten. Ohne Nachhaltigkeit würde man nichts finden, was die Jahrhunderte überdauert hat. Heute verfügen wir über unglaubliche technische Hilfsmittel, die es uns ermöglichen, die Landschaft tiefgreifend zu verändern. Das Ergebnis ist, dass manchmal an absurden Orten gebaut wird, obwohl es genügen würde, die Zeit auf lange Sicht zu berücksichtigen. Diesen Blick kann die Archäologie bieten. Darüber hinaus sind die jüngeren Generationen, insbesondere meine Schüler, angesichts des Klimas ängstlich. Ohne selbst Optimist zu sein, habe ich versucht, sie zu verstehen. Dies waren auch Fragen, die von unserem Publikum an mich als Museumsdirektor kamen.

In Ihrem Buch sprechen Sie von einem Spannungsfeld zwischen Archäologie und Raumplanung. Was hat es damit auf sich?

Die Bevölkerung stellt sich Archäologen in der Regel als Gegner des Fortschritts und neuer Bauvorhaben vor. Meiner Meinung nach ist das aber ein Missverständnis: Zunächst einmal muss man wissen, dass man heute von «präventiver Archäologie» spricht. Wir verstehen darunter das Aufspüren und Sichern möglicher archäologischer Überreste, bevor ein neues Gebäude errichtet wird. Zu dieser präventiven Vorgehensweise wurden im Übereinkommen von Malta im Jahr 1992 die Grundsätze festgeschrieben.

Wie kam es zu dem Missverständnis?

In den letzten fünf Jahrhunderten wurde die Archäologie vor allem von Architekten und Ingenieuren betrieben, um neue Gebäude zu errichten. Die defensive Wende, bei der Archäologen eine reaktionäre Haltung einnehmen mussten, um ihr Fachgebiet zu verteidigen, erfolgte in der Zeit der «Goldenen Dreissiger» nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konvention von Malta ermöglichte es, aus dieser Situation auszubrechen und die Dinge aus einer kollaborativen Perspektive zu betrachten.

Hat sich die Vorstellungswelt der Archäologen verändert?

Nur wenig. Archäologen verstehen nicht immer den Nutzen der präventiven Archäologie und sehen sich lieber als romantische Entdecker. Diese Vorstellungswelt prägt auch das Bild, das die Öffentlichkeit von unserem Beruf hat. Aus bürokratischer und technokratischer Sicht funktioniert es, aber die Archäologen fühlen sich unwohl. Dabei sollte man das Positive an dieser Wende sehen: Die Archäologie kann zur Aufwertung des Landes im Sinne der Nachhaltigkeit beitragen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen? Inwiefern können die Hinterlassenschaften unserer Vorgänger den heutigen Entscheidungsträgern helfen?

Archäologen sind Experten für die langfristige Geschichte der Umwelt. Gute Beispiele, um die Lehren der Vergangenheit zu verstehen, sind Flüsse. Sie sind geologische Kräfte, bei denen die Zeitskala normalerweise in Jahrhunderten oder Jahrtausenden gemessen wird.  Jahrhundertelang haben wir einige Flüsse für die Vorteile der intensiven Landwirtschaft unterirdisch verlegt oder sogar kanalisiert. Doch heute, da der Klimawandel das Risiko von Überschwemmungen erhöht, ist es wahrscheinlich, dass der Fluss irgendwann wieder in sein natürliches Bett zurückkehrt. Dieses Risiko wird jedoch falsch eingeschätzt, da die Erinnerung an den alten Verlauf verloren gegangen ist. Die Archäologie ermöglicht es, diese Spuren wieder zu finden.

Gibt es weitere Fallbeispiele?

Nehmen wir die künstliche Absenkung des Spiegels des Neuenburger Sees: Auf Gemälden aus dem 19. Jahrhundert ist zu sehen, dass es am Südufer Klippen gab. Heute sind sie von der Vegetation bedeckt, da der Wasserspiegel gesunken ist. Aber durch natürliche Erosionsprozesse knabbert der See jedes Jahr ein paar Meter ab, bis er wieder sein altes Ufer am Fuss der Klippen erreicht hat. Und wenn man irgendwo Beton zum Schutz der Küste anbringt, wird sich der Erosionsdruck an anderer Stelle nur noch weiter erhöhen. So werden wir das Phänomen nicht in den Griff bekommen.

Dieser historische Abstand ermöglicht es also, die Gebiete anders zu betrachten?

Ja, und das ist ein Aspekt, der sehr hilfreich ist. Das Paradebeispiel in der Westschweiz sind die Hänge im Lavaux, wo die Landschaft jahrhundertelang von der Menschheit bearbeitet wurde: von Generationen von Mönchen und Weinbauern, um die Erosion zu bekämpfen. Im Buch erzähle ich zudem von einer Siedlung von Jägern und Sammlern aus dem Jungpaläolithikum, die bei präventiven Ausgrabungen vor dem Bau eines Ikea-Einkaufszentrums im Elsass entdeckt wurde. Dies ermöglicht eine neue Sicht auf das Gebiet: Was heute ein gewöhnliches Einkaufszentrum ist, gewinnt wieder an kulturellem Wert. Die Firma Metalor im Kanton Neuenburg war begeistert, als sie erfuhr, dass Archäologen neben ihrer Fabrik eine über 2000 Jahre alte Goldschmiedewerkstatt entdeckt hatten.

Aber kollidiert dieser symbolische Wert nicht mit dem wahrgenommenen wirtschaftlichen Wert? Fand es der Erbauer des elsässischen Ikea-Marktes sinnvoll, dieses Kulturerbe zu schützen?

Es stimmt, dass es diese Konflikte gibt. Aber wenn der Bauherr während der Bauarbeiten darauf aufmerksam gemacht wird, wird er sich schliesslich auch der archäologischen Frage bewusster werden. Man muss von der Haltung wegkommen, dass man die Geschichte allein in seiner Ecke schreibt. Es gibt einen kollektiven Sinn, den man ihr geben muss – insbesondere heute, in der Zeit der Delokalisierung und Dematerialisierung. Es gibt eine echte Nachfrage der Öffentlichkeit in dieser Richtung. Wir Archäologen werden dafür bezahlt, unseren Beruf auszuüben, aber wir müssen uns auch fragen, warum wir das tun: um die Vergangenheit nicht nur lebendig, sondern auch für die Zukunft nutzbar zu machen.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch über die «Hippie-Phase» der Archäologie in den 1960er Jahren. War die Archäologie also auch Teil der Gegenkultur?

Man könnte sagen, dass ein Archäologe durch seine Sorge um den Fortbestand historischer Spuren im Laufe der Zeit gegen den Konsumismus geimpft werden sollte. In den 1960er Jahren gab es diesen Eifer um den technologischen und sozialen Fortschritt, der als Reaktion darauf die Gegenkultur entstehen ließ. Globalisierungsgegner, Linke und Umweltschützer machten sich auf, um sich mit dem Argument des archäologischen Erbes den Betonmischern in den Weg zu stellen, so wie andere zur gleichen Zeit loszogen, um im Larzac Ziegen zu züchten. Es ist, wenn man so will, die gleiche Idee der Rückkehr zur Erde: Sich auf den Weg zu machen, um frühere Bevölkerungsgruppen zu treffen, die anders gelebt haben – als Reaktion auf die Auswüchse der Konsumgesellschaft.

Wie sieht es bei den neuen Klimabewegungen aus?

Im Moment sind diese eher eine verpasste Chance. Ein gutes Beispiel dafür ist das Gelände von Mormont. Im Jahr 2006 wurden dort bei präventiven Ausgrabungen bedeutende Funde gemacht. Holcim spendete Geld, um einen kleinen Teil dieses Erbes zu retten, damit der Rest zerstört werden konnte. Fünfzehn Jahre später stellten Aktivisten vor allem die Erhaltung des Naturerbes in den Vordergrund. Sie hätten sich auch auf den Erhalt des archäologischen Erbes konzentrieren können. Bei der nachhaltigen Entwicklung sollte nicht zwischen der Natur und der Kultur unterschieden werden.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von unserer Redaktorin Ramona Nock aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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