Das musst du wissen

  • Junge Menschen bekommen Störungen, weil sie sich Videos auf der Social Media-App Tiktok anschauen.
  • Diese Ticks gleichen zwar jenen von Menschen mit dem Tourette-Syndrom, sind aber deutlich komplexer.
  • Neurologen erklären das Phänomen mit Spannungen und Ängsten, die junge Menschen im Lockdown entwickelt haben.

Diese Nachricht dürfte alle aufschrecken, die zu viel Zeit auf Social Media verbringen: Im Herbst 2020 beobachteten Neurologen auf der ganzen Welt bei ihren Patienten eine Zunahme von Ticks, die denen ähnelten, die Menschen mit dem Tourette-Syndrom entwickeln. Diese neuen Störungen zeigen sich auf sehr unterschiedliche Weise und betreffen verschiedene Bevölkerungsgruppen. Junge Frauen, die auf der beliebten Videoplattform TikTok aktiv sind, sollen besonders betroffen sein. Was wissen Experten heute über diese Störung?

Warum berichten wir darüber? Die Experten für das Tourette-Syndrom nehmen diese neue Art von Ticks sehr ernst. Am Europäischen Kongress der «European society for the study of Tourette syndrome», der vom 9. bis 11. Juni in Pully stattfand, wurde dem Tourette-Syndrom ein wichtiger Platz gewidmet. Dort diskutierten Fachleute über Diagnose- und Behandlungskriterien.

Plötzliche Bewegungen und Laute. Während das Tourette-Syndrom (Gilles de la Tourette, GTS) in der Öffentlichkeit oft weitgehend karikiert wird, ist es bei Neurologen mittlerweile gut bekannt. Es handelt sich um eine dauerhafte neuropsychiatrische Störung, die sich besonders bei Kindern durch kleine unwillkürliche Bewegungen und stimmlichen Äusserungen bemerkbar macht. Sie tritt häufig in Verbindung mit Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefiziten oder Zwangsstörungen auf.

Kerstin von Plessen, Leiterin der Abteilung für Psychiatrie am Universitätsspital Lausanne, erklärt:

«Beim Tourette-Syndrom treten die Symptome relativ früh auf – im Alter von drei bis acht Jahren – und ganz allmählich. Zunächst handelt es sich um kleine Bewegungen, leichte motorische Zeichen wie Blinzeln oder Augenbewegungen, Mimik, Räuspern und stimmliche Äusserungen. Später kann es zu unwillkürlichen Beinbewegungen oder, seltener, zu Koprolalie kommen (Anm. d. Red.: der Impuls, sexuelle Ausdrücke und/ oder solche aus der Fäkalsprache zu äussern).»

Entgegen der landläufigen Meinung ist die Koprolalie relativ selten und betrifft weniger als zwanzig Prozent der Menschen mit Tourette-Syndrom.

Andreas Hartmann, Neurologe am Krankenhaus Pitié-Salpêtrière in Paris und Experte am ebenfalls dort ansässigen Institut für Hirnforschung, erläutert die diagnostischen Kriterien:

«Um von einem Tourette-Syndrom zu sprechen, müssen die motorischen und akustischen Ticks – mindestens ein motorischer Tick und zwei vokale – seit mindestens einem Jahr vorhanden sein. Die Diagnose wird hauptsächlich durch die klinische Untersuchung gestellt, was manchmal schwierig ist, da Menschen mit Tourette-Syndrom in der Öffentlichkeit meist nur wenige Ticks haben.»

In der Privatsphäre der Wohnung gedrehte Videos und eventuell Magnetresonanztomographie (MRT) sowie Messungen der Hirnströme (EEG) können die Diagnose vervollständigen.

Tick-ähnlich. Trotz einiger Ähnlichkeiten sind die ab Herbst 2020 festgestellten Störungen ganz anders, weshalb sie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen als «functional tic-like behaviours», also funktionelles, tick-ähnliches Verhalten, bezeichnet werden. Der Begriff «funktional» wird verwendet, um auszudrücken, dass es keine biologischen Marker gibt, die eine Diagnose ermöglichen. Kerstin von Plessen erklärt:

«Bei den funktionellen Tics, die wir im Herbst 2020 beobachtet haben, ist das Auftreten viel schneller und die anfänglichen Manifestationen sind sofort sehr komplex: dies mit vokalen Ticks wie Pfeifen und vielschichtigen motorischen Ticks mit abrupten Bewegungen.»

So sind die Symptome gewissermassen reicher und auffälliger. Tatsächlich sind häufig Fälle zu beobachten, in denen die Betroffenen mit Gegenständen werfen, obszöne Gesten machen, selbstverletzendes Verhalten zeigen, fluchen und schreien. Ausserdem verstärkt sich dieses Verhalten in der Öffentlichkeit und nimmt eher ab, wenn die Person allein ist.

Der Neurologe Andreas Hartmann ergänzt:

«Der Beginn ist später als beim Tourette-Syndrom, da diese ‘functional tic-like behaviors’ in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter auftreten. Sie zeigen sich vor allem bei jungen Frauen, während das Tourette-Syndrom eher männlich ist.»

Beunruhigenderweise sind diese jungen Frauen starke Nutzerinnen von sozialen Netzwerken, insbesondere von TikTok, wo der Hashtag #tourettes für Tourette-Syndrom in den letzten zwei Jahren sehr präsent war und häufig angesehen und geteilt wurde.

Erklären, ohne zu stigmatisieren. Die Versuchung ist gross, das Phänomen als etwas zu sehen, das von den jungen Frauen absichtlich herbeigeführt wurde, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch damit würde man den allgemeinen Kontext des Auftretens dieser «functional tic-like behaviours» ebenso verleugnen wie ihre individuellen Ursachen. Im Frühjahr und Sommer 2020 befand sich ein Grossteil der Welt im Lockdown – unsere Augen waren auf Bildschirme gerichtet, ohne soziale Kontakte. Ganz zu schweigen von der angstauslösenden Dimension des Pandemiebeginns. Kerstin von Plessen erläutert die in Betracht gezogenen Hypothesen:

«Vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit der Pandemie oder zumindest mit den Spannungen, Ängsten und Depressionen, die sie vor allem bei jungen Menschen ausgelöst hat. Dann könnten diese funktionellen Ticks eine Form der unbewussten Bewältigung all der angestauten Spannungen sein – eine unfreiwillige Art, eine Lösung für diese Spannungen zu finden.

Ausserdem scheint es ein Ansteckungsphänomen dieser unbewussten Art, Spannungen über soziale Netzwerke abzubauen, zu geben, wie es zum Beispiel auch beim Ritzen der Haut auftreten kann.»

Es scheint einen deutlichen Zusammenhang zwischen Angstzuständen und Depressionen und dem Auftreten von «functional tic-like behaviors» bei jungen Tik-Tokkerinnen zu geben.

Andreas Hartmann ergänzt: 

«Die Entwicklung dieser Art von unbewusstem Verhalten bedeutet, dass man Teil einer grossen Gemeinschaft ist und sich zugehörig fühlt. Anstatt zu sagen: Ich habe Angst, ich fühle mich allein, neigen Menschen möglicherweise dazu, unfreiwillig Symptome zu entwickeln, um die Aufmerksamkeit auf ihr Unwohlsein zu lenken.»

Die Begriffe «unbewusst» oder «unfreiwillig» sind entscheidend: Die Menschen tun dies nicht absichtlich. Kerstin von Plessen betont, dass es sich hierbei nicht um eine Absicht handelt:

«Man muss aufpassen, dass man die Menschen, die von diesen funktionellen Ticks betroffen sind, nicht stigmatisiert. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es nicht das Gehirn ist, das spricht, sondern der Körper, der unter angestauten Spannungen leidet.»

«Erste Studien haben gezeigt, dass die Medikamente, die Personen mit Tourette-Syndrom üblicherweise verschrieben werden, bei diesen funktionellen Ticks nicht wirksam sind. Anstelle von Medikamenten wird man die Personen auf Verhaltens- und kognitive Therapien verweisen. So sollen sie wieder Kontakt mit ihrem Körper aufnehmen können und lernen, Angstzustände mit Entspannungsmethoden zu begegnen.»

Auch wenn die Häufung dieser funktionellen Ticks tendenziell wieder etwas zurückgeht, hat die Forschung zu diesen Mechanismen noch nicht alle Geheimnisse enthüllt.

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von unserer Redaktorin Ramona Nock aus dem Französischen übersetzt.
 

Heidi.news

Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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