Als im März 2020 bekannt wurde, dass die Covid-Fälle dem BAG per Fax übermittelt werden müssen und die Visualisierung der Daten Private übernahmen, wurde klar, dass das Bundesamt die Digitalisierung jahrzehntelang verschlafen hatte. Doch auch bei der Wissenschaftlichkeit haperte es. So wurde beispielsweise an der Medienkonferenz vom 27. April 2020 vom BAG verkündet, dass «Kinder praktisch nicht infiziert werden und vor allem, nicht das Virus weitergeben». Deshalb gehe von Kindern keine Gefahr aus, auch nicht für Risikopatienten oder Grosseltern. Diese Aussagen entbehrten damals jeglicher wissenschaftlichen Grundlage und wurden inzwischen von zahlreichen Studien widerlegt. In Anbetracht der potenziell fatalen Konsequenzen für vulnerable Personen, sind diese Aussagen zusätzlich als fahrlässig einzustufen. Wenn es zu einem Thema noch keine robusten Daten gibt, muss das auch entsprechend kommuniziert werden. Ein regelrechter Fehlstart also für das BAG.

Dominique de Quervain

Der Neurowissenschaftler und Stressforscher Dominique de Quervain ist Direktor der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften an der Universität Basel. Seit Beginn der Pandemie beschäftigt er sich intensiv mit den psychischen Auswirkungen der Gesundheitskrise und lancierte die Swiss Corona Stress Study. Bis Mitte April 2021 war de Quervain Mitglied der Covid-19 Science Taskforce.

Führungswechsel brachte keinen Durchbruch

Mit dem Wechsel in der Führung des BAG im Oktober 2020 waren grosse Hoffnungen auf einen positiven Wandel verknüpft. Im weiteren Verlauf der Pandemie wurden diese aber leider mehrheitlich zerschlagen. Während das Bundesamt sich zwar deutlich darin verbesserte, Daten zu erfassen, aufzubereiten und zu veröffentlichen, bekundete es bei der Betreuung und Weiterentwicklung der Swiss-Covid-App grösste Probleme. Ein Mitentwickler der App kritisierte das BAG entsprechend: «Es ist bedenklich, dass in der Schweiz eine Technologie, deren Nutzen wissenschaftlich mehrmals aufgezeigt wurde, so auf der Seite liegen gelassen wurde». Dass die App hilft, Infektionen zu verhindern, zeigte unter anderem eine im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie. Doch leider blieb die App in der Schweiz weit hinter ihrem Potenzial zurück. Und auch die Zukunft der Digitalisierung schaut nicht rosig aus, denn: Die leitende Stelle der Abteilung für digitale Transformation im BAG ist seit Monaten vakant.

Das Problem mit wissenschaftlichen Erkenntnissen

Doch nicht nur mit der Digitalisierung, sondern auch mit der Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse bekundete das BAG wiederholt grosse Probleme: Internationale Expertinnen und Experten waren sich schon früh in der Pandemie einig, dass Aerosole bei der Übertragung von Sars-CoV-2 eine zentrale Rolle spielen. Doch auf der Webseite des BAG war noch im Sommer 2021 zu lesen, dass «Ansteckungen durch Aerosole nicht häufig vorkommen». Fest steht jedoch: Für diese Aussage gab es zu keinem Zeitpunkt der Pandemie einen wissenschaftlichen Beleg. Später löschte das BAG den Satz, hat es jedoch unterlassen, die Bevölkerung entsprechend aufzuklären.

Viele der anfänglich verkündeten Meinungen sind in der Bevölkerung und bei Behörden nach wie vor weit verbreitet.

Anzuerkennen, wie wichtig Aerosole für die Übertragung des Virus sind, wirkt sich auch auf die Schutzmassnahmen aus. So haben etliche Studien gezeigt, dass FFP2-Masken besser vor Aerosolen schützen als chirurgische Masken, wie beispielsweise diese Studie im Fachmagazin PNAS zeigte. Die Harvard School of Public Health hatte das Tragen von FFP2-Masken schon im Januar 2021 empfohlen und in der Folge auch die meisten Fachgesellschaften und Gesundheitsbehörden weltweit. Anders das BAG: Noch im Dezember 2021 war auf der Webseite zu lesen, dass FFP2-Masken für den privaten Gebrauch nicht empfohlen werden. Doch das ist längst nicht alles – es gibt noch weitere Konsequenzen: So hat die US-Regierung jüngst angekündigt, Milliarden in Ventilations- und Filteranlagen für saubere Luft in öffentlichen Innenräumen zu investieren. Unter anderem 122 Milliarden Dollar für Schulen. In der Schweiz sind solche baulichen Massnahmen kein Thema.

BAG muss besser aufklären

Genau wie bei der Fehleinschätzung zur Virusübertragung von Kindern, hat das BAG auch die entsprechenden Sätze bezüglich der Aerosole Monate nachdem sie widerlegt wurden, von der Webseite gelöscht. Und auch hier kam es aber nie zu einer angemessenen öffentlichen Aufklärung über die Änderung. Das ist nicht nur eine bedenkliche Fehlerkultur, es ist auch fahrlässig. Denn viele der anfänglich verkündeten Meinungen sind in der Bevölkerung und bei Behörden nach wie vor weit verbreitet. Ein weiteres Beispiel unterlassener Aufklärungsarbeit findet sich zum Zeitpunkt, als der Bundesrat die Rückkehr in die normale Lage beschlossenen hat. Denn es wäre die Aufgabe des Bundesamtes für Gesundheit, die Bevölkerung über die möglichen Langzeitfolgen von Covid-19 angemessen aufzuklären. Und zu vermitteln, dass es selbst wenn alle gesetzlichen Schutzmassnahmen aufgehoben sind, sinnvoll ist, Infektionen zu vermeiden. Auch zum Schutz der vulnerablen Personen, für die das BAG bis heute nicht im Stande war, das hochwirksame Covid-Medikament Paxlovid zu beschaffen. Kennzeichnend für diese Versäumnisse ist der Umstand, dass auch die leitende Stelle der Abteilung für übertragbare Krankheiten im BAG seit über einem Jahr vakant ist.

Es ist nicht vorbei

Digitales Know-how, wissenschafts- und evidenzbasiertes Handeln sowie professionelle Kommunikation sind Grundpfeiler einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung. Man kann hoffen, dass das BAG seine Hausaufgaben nun macht. Denn eines ist klar: Die Pandemie ist nicht vorbei – und eine nächste könnte kommen.

Klartext

Sechs hochkarätige Forscherinnen und Forscher schreiben im «Klartext» pointiert und faktenbasiert ihre Meinung zu einem selbst gewählten wissenschaftlichen Thema. Das wissenschaftliche Sextett setzt sich zusammen aus Dominique de Quervain, Neurowissenschaftler (Uni Basel), Sophie Mützel, Soziologin (Uni Luzern), Martin Röösli, Umweltepidemiologe (Swiss TPH), Monika Bütler, Ökonomin (Uni St. Gallen), Klimaforscher Reto Knutti (ETH Zürich) sowie Nikola Biller-Andorno, Professorin für Biomedizinische Ethik (Universität Zürich).
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