Das musst du wissen

  • Die gemeinsamen Wurzeln der Ukraine und Russlands liegen in einem im Mittelalter von Wikingern gegründeten Fürstentum.
  • Die Ukraine, früher als «Kleinrussland» bezeichnet, gehörte viele Jahrhunderte zum russischen Zarenreich.
  • Erst 1991 erlangte das Land die Unabhängigkeit von der Sowjetunion – die Nationalbewegung ist aber viel älter.
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Fabian BaumannzVg

Fabian Baumann forscht als Historiker zum Schwerpunkt auf dem historischen Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland.

Am 24. Februar 2022 startete die russische Invasion der Ukraine. Und obwohl im Osten des Landes seit acht Jahren gekämpft wird, kam der Angriffskrieg für viele Menschen in Europa überraschend. Was also meint der russische Diktator Wladimir Putin, wenn er von der russisch-ukrainischen Einheit spricht, wenn er die Ukraine in Essays als «Kleinrussland» und die derzeitige Regierung in seiner Kriegserklärung als «faschistisch» bezeichnet und dem Staat die Souveränität abspricht? «Beide Länder sind historisch eng verbunden – manchmal wuchsen sie enger zusammen, mal drifteten sie weiter auseinander», sagt der Basler Historiker Fabian Baumann, der schwerpunktmässig zum historischen Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland forscht. Ein Blick auf zehn Schlüsselereignisse in der Geschichte beider Länder macht die historischen Hintergründe des aktuellen Kriegs sichtbar. Denn die wechselhafte Geschichte dient sowohl Putin als Argument historischer Einheit mit Russland als auch der ukrainischen Nationalbewegung als Argument für Souveränität und Autonomie.

1. 838 – Kiewer Rus

Die Geschichte beginnt im Mittelalter: Auf ihrem Weg zum Mittelmeer siedelten sich Wikinger am Fluss Dnipro an und gründeten die sogenannte «Kiewer Rus», den ersten ostslawischen Staat. Das Gebiet mit Kiew als Machtzentrum reichte teilweise von der Nordsee bis ans Schwarze Meer. Hier liegen die gemeinsamen historischen Wurzeln Russlands und der Ukraine – sowohl Russland als auch die Ukraine sehen sich als direkte historische Nachfolger der Kiewer Rus. «Aber das ist kein ukrainischer und auch kein russischer Staat – genauso wenig wie das Römische Reich ein italienischer oder französischer Staat war, sondern eine gemeinsame Vorgängerkultur», erklärt der Historiker Fabian Baumann. Gesprochen wurde in der Kiewer Rus «altostslawisch», aus dem sowohl das moderne Russisch als auch das moderne Ukrainisch entstanden sind.

University of Texas Libraries

Eine Karte zeigt die Ausdehnung der Kiewer Rus im Jahr 1000. Quelle: Historical Atlas by William R. Shepherd, 1926.

2. 1362 – Eroberung durch Litauen, polnischer Einfluss

Im 13. Jahrhundert zerfiel die Kiewer Rus in kleinere, unabhängige Fürstentümer. 1362 wurden diese vom litauischen Grossfürsten Algirdas erobert – die Gebiete der heutigen Ukraine und Belarus wurden damit Teil des Grossfürstentums Litauen, das 1569 einen gemeinsamen Staat Polen-Litauen bildete. Gleichzeitig strebte Moskau, das Teil der zersplitterten Kiewer Rus war, zur neuen Regionalmacht auf. «Es folgten mehrere Jahrhunderte, wo sich die Gegenden der beiden heutigen Staaten auseinanderentwickeln und die Kulturen sich zu unterscheiden begannen», sagt Historiker Baumann. Im Gebiet der heutigen Ukraine war der Einfluss Polens und damit der katholischen Kirche stark. Das Moskauer Reich hingegen war orthodox geprägt und entwickelte sich zu einem immer grösseren Zarenreich.

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Die Karte zeigt das polnisch-litauische Reich im Jahr 1560 – auch Teile der heutigen Ukraine gehörten zu dem Reich. Quelle: Historical Atlas by William R. Shepherd, 1926.

3. 1654 – Vertrag von Perejaslaw

Einige Jahrhunderte später gab es auf dem Gebiet der heutigen Ukraine erstmals Bestrebungen nach Unabhängigkeit von der Adelsrepublik Polen-Litauen. Vor allem im Süden der heutigen Ukraine erlangten entflohene Leibeigene militärische Grösse: die Kosaken. Unter ihrem Hauptmann Bodhan Chmelnyzki riefen sie ihr Herrschaftsgebiet, das «Hetmanat», aus.  «Das Kosakenreich wird noch heute in der ukrainischen Nationalbewegung idealisiert und von manchen als erster ukrainischer Staat angesehen», sagt Baumann. Die Herrscher von Polen-Litauen wollten das Kosakenreich allerdings nicht anerkennen und so führten sie von 1648 bis 1657 Krieg gegen die Kosaken. Diese entschlossen sich 1654, mit dem Vertrag von Perejaslaw einen Treueeid auf den russischen Zaren Alexei I. zu schwören – dafür erhielten sie militärische Unterstützung von Russland im Kampf gegen Polen-Litauen: Somit begann der russisch-polnische Krieg. Als 1668 Frieden geschlossen wurde, teilten Polen-Litauen und Russland die heutige Ukraine entlang des Dnipro auf: Der Westen stand weiter unter polnischem Einfluss, der Osten gehörte zu Russland – damit begann für Russland der Aufstieg zur europäischen Grossmacht.

University of Texas Libraries

Nach dem russisch-polnischen Krieg verlief die Grenze der beiden Staaten entlang der Dnipro. Die Karte von 1740 zeigt auch das Hetmanat der Kosaken. Quelle: Historical Atlas by William R. Shepherd, 1926.

4. 1795 – Die drei Teilungen Polens

Damit begann im 17. Jahrhundert eine Phase, in der das polnisch-litauische Reich zunehmend destabilisiert wurde. 1772, 1793 und 1795 wurde das polnisch-litauische Reich schrittweise zwischen Preussen, den Habsburgern und Russland aufgeteilt. Ein Grossteil der heutigen Ukraine ging in den Besitz Russlands, das mittlerweile zum Imperium unter Katharina der Grossen angewachsen war. Die kosakischen Eliten in der Ukraine liessen sich recht friedlich in das russische Imperium eingliedern: Schliesslich konnten sie vor Ort weiter über die bäuerliche Bevölkerung regieren, solange sie dem russischen Imperium die Treue schworen. «Die ukrainischen Eliten, zu dieser Zeit als Kleinrussen bezeichnet, nahmen bald eine Stellung ein, die sich mit den Schotten im britischen Empire vergleichen lässt. Sie lernten die russische Sprache, das dem Ukrainischen sehr nahe ist, und prägten die Politik in Russland mit», sagt Baumann.

IEG / A. Kunz 2004

1795 wurde Polen zwischen Preussen, Österreich und Russland aufgeteilt. Fast die gesamte Ukraine befand sich damit unter russischer Kontrolle.

5. 1863 – Walujew-Zirkular

Die Kleinrussen blieben aber eine Minderheit im russischen Zarenreich, wenn auch die grösste. Darum begann sich zu dieser Zeit das Nationalbewusstsein langsam herauszuschälen – wenn auch hauptsächlich bei den Intellektuellen in den Universitätsstädten. Der Begriff «Kleinrussland» wurde von der noch jungen Nationalbewegung zunehmend durch «Ukraine» ersetzt, was «Grenzgebiet» heisst. Die nationalen Bestrebungen wurden von Zentralrussland unterdrückt; nationalistische Gruppen wurden zerschlagen und in andere Landesteile verbannt. Die ukrainische Sprache wurde vom Innenminister Pjotr Walujew eingeschränkt, in ein Gesetz schrieb er: «Es gab keine kleinrussische Sprache, es gibt keine kleinrussische Sprache und es kann nie eine kleinrussische Sprache geben.» Ukrainisch galt Mitte des 19. Jahrhunderts aus zentralrussischer Sicht nicht als eigene Sprache, sondern als Bauerndialekt. Da die russische Regierung verhindern wollte, dass auch die mehrheitlich bäuerliche Bevölkerung eine ukrainische Identität entwickelt, wurde der Schulunterricht auf Ukrainisch verboten. «Dennoch wurden die ukrainischen Bauern damals nicht völlig zu Russen gemacht», erzählt der Historiker Fabian Baumann. «Die Nationalbewegung war damals allerdings bei den Bauern sowieso nicht sonderlich erfolgreich – die Bauern waren mehr an ihrer Dorfgemeinschaft interessiert als an Staatsideen.»

6. 1917 – Gründung der Ukrainischen Volksrepublik

Das änderte sich, als 1917 das russische Zarenreich auseinanderbrach und der Zar in Moskau gestürzt und durch eine provisorische Regierung ersetzt wurde. Die Wirren der Revolution im gesamten Land nutzte auch die Nationalbewegung in Kiew und gründeten die Ukrajinska Narodna Republiska, die Ukrainische Volksrepublik, die zunächst auch von der provisorischen russischen Regierung akzeptiert wurde. «Inwiefern die Macht der Volksrepublik aber wirklich über Kiew hinausreichte, ist umstritten», sagt Baumann. «Gerade in den ländlichen Gegenden herrschte zunehmend Anarchie. Trotzdem hörten in dieser Zeit viele Bauern erstmals von der Idee eines ukrainischen Nationalstaats und die Autonomie der Ukraine gewann an Interesse.» Gleichzeitig stolperte Russland in die kommunistische Oktoberrevolution und damit in einen bis 1922 dauernden Bürgerkrieg. Die Bolschewiki um Wladimir Lenin lehnte eine unabhängige Ukraine ab, da Russland von dem auch als «Kornkammer Europas» bekannten Gebiet zur Nahrungsmittelproduktion abhängig war.

Wikipedia / Witalii; team higgs

Die Ukrainische Volksrepublik im Jahr 1917.

7. 1920 – Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik

Lenins Rote Armee war im Bürgerkrieg erfolgreich und nahm 1920 fast die gesamte Ukraine ein – nur der westlichste Teil gehörte in der Zwischenkriegszeit zu Polen. Zwei Jahre später endete der Bürgerkrieg in Russland und die Sowjetunion entstand. Die kommunistische Ideologie war einerseits auf politischen Zentralismus aufgebaut, die Fäden wurden in Moskau gezogen – andererseits durften sich die Nationalitäten im Kommunismus frei entfalten. Anders als im Zarenreich, als die Ukraine noch als Kleinrussland galt, wurde sie nun von den Sowjets als eigene Nationalität und Sprache innerhalb der Sowjetunion anerkannt. Mehr Menschen denn je lernten Ukrainisch schreiben, die ukrainische Hochkultur erlebte eine Renaissance. Die Sowjets legten zudem erstmals ein ukrainisches Territorium im modernen Sinne fest – «darauf bezieht sich Putin, wenn er sagt, Lenin hat die Ukraine erfunden», sagt Fabian Baumann.

8. 1932 – Holodomor

In der Sowjetunion hatte die Ukraine eine Sonderstellung, sie galt als «kleiner Bruder» Russlands. Den Eliten der Ukraine standen wie im Zarenreich alle Wege nach oben offen – auch die späteren Generalsekretäre der kommunistischen Einheitspartei in Russlands, Chruschtschow und Breschnew, machten zunächst in der Ukraine Karriere. Autonomiebestrebungen in der Ukraine gab es dennoch – die natürlich in Moskau nicht gern gesehen wurden. Der zunehmend brutalen Regierung unter Lenins Nachfolger Josef Stalin kamen die Missernten 1931 und 1932 in Südrussland, Kasachstan und vor allem in der Ukraine gelegen: Es kam zu einer starken Hungersnot mit mindestens drei Millionen Opfern. Die Hungersnot wird in der Ukraine heute als «Holodomor», «Tötung durch Hunger», bezeichnet und teilweise als Genozid klassifiziert. «Der sowjetische Staat hat die Hungersnot auf alle Fälle genutzt, um die Widerspenstigkeit der Ukrainer zu brechen», sagt Baumann. Einige ukrainische Nationalisten kollaborierten später im zweiten Weltkrieg mit den Nazis, in der Hoffnung, so die Autonomie von der Sowjetunion zu erlangen. So beteiligten sich ukrainische Nationalisten auch am Holocaust und verübten Massaker an der polnischen Bevölkerung. «Deshalb stellt Putin noch heute die ukrainische Souveränität als faschistisch dar und tarnt seinen Krieg als Entnazifizierung – obwohl ein Grossteil der Ukrainer damals auf Seiten der Roten Armee kämpften», erklärt Baumann.

9. 1991 – Unabhängigkeit der Ukraine

Weiter verschlechtert wurde die Beziehung der Menschen in der Ukraine zur Moskau mitunter durch die Tschernobyl-Katastrophe 1986, denn die Behörden kommunizierten nur intransparent über den Atomunfall – das Versagen des Staats wurde vor allem am Ort des Geschehens in der Ukraine sichtbar. Es sollte nur noch fünf Jahre dauern, bis die Sowjetunion vollends auseinanderbrach. Als sich das Ende des von Moskau gesteuerten Kommunismus abzeichnete, bekam auch die Nationalbewegung in der Ukraine wieder Aufwind. «Die Parteieliten in der Ukraine unterstützten schliesslich die Unabhängigkeit, wohl auch in der Hoffnung, sich so ihre Macht zu sichern», erläutert der Historiker Baumann. Im Sommer 1991 erklärt die Ukraine ihre Unabhängigkeit, die bei einer Volksabstimmung im Winter bestätigt wird. 92 Prozent der Wahlberechtigten in der Ukraine stimmten für die Unabhängigkeit – auch in der Ostukraine lag die Zustimmung bei 83 Prozent, auf der Halbinsel Krim bei 54 Prozent. Russland akzeptierte die Souveränität und offiziellen Grenzen der Ukraine 1994 aus einer Position der Schwäche heraus – im Gegenzug gab diese die sowjetischen Atomwaffen zurück, die auf dem Gebiet der Ukraine stationiert waren. Trotz der offiziellen Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit gab es in Russland auch damals schon kritische Stimmen aus der Intellektuellen-Elite.

Majdan mit Unabhängigkeitsdenkmal.Unsplash / Gleb Albovsky

Der Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan mit dem Unabhängigkeitsdenkmal.

10. 2014 – Annexion der Krim, Krieg in Donbass

«Die Ukraine entwickelte sich in den folgenden zwanzig Jahren für postsowjetische Verhältnisse in einen sehr demokratischen, wenn auch chaotischen Staat», sagt Fabian Baumann. «Und viele Eliten in Russland haben gar nicht mitgekriegt, wie anders sich die Ukraine seit der Unabhängigkeit entwickelt hat.» Konkret: Das Land näherte sich dem Westen an. Entsprechend unzufrieden war die ukrainische Bevölkerung mit dem russlandtreuen und selbst für ukrainische Verhältnisse besonders korrupten Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Die Proteste gegen ihn begannen 2013 – er liess sie brutal niedergeschlagen. Doch kurz darauf entmachtete das ukrainische Parlament Janukowytsch, während gleichzeitig Russland die Unruhen nutzt, um die Halbinsel Krim einzunehmen. Bald darauf startete der Krieg separatistischer Kräfte in der Ostukraine. Ab diesem Zeitpunkt erkannte Russland die offiziellen Grenzen der Ukraine nicht mehr an.

Noch deutlicher machte dies Putin spätestens mit dem Angriffskrieg Ende Februar 2022. Für den Kreml-Chef ist die demokratisch gewählte Regierung in Kiew nichts anderes als «eine Marionetten-Kolonie der Nato», von der man die Menschen in der Ukraine «befreien» müsse. Fabian Baumann sieht auch in dieser Argumentation historische Parallelen: Schon Innenminister Pjotr Walujew vermutete im 19. Jahrhundert «polnischen Einfluss» hinter der ukrainischen Autonomiebewegung. Was Wladimir Putin dabei vergisst: die Interessen der Menschen in der Ukraine. Historiker Baumann sagt dazu: «Heute gibt es ein grosses Bedürfnis nach Unabhängigkeit in der Ukraine, der Patriotismus sowohl als auch die antirussischen Einstellungen sind nun stärker denn je. Putin hat den Menschen in der Ukraine schlichtweg nichts zu bieten ausser korruptem Autoritarismus – da bevorzugen sie die korrupte Demokratie im eigenen Land.» Putin hat das ukrainische Nationalbewusstsein mit seinem jüngsten Angriff also nur noch verstärkt – keine guten Voraussetzungen für eine – wie Putin es sich wünscht – friedliche russische Herrschaft in der Ukraine.

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