Im Jahr 1918 erreichte das Rektorat der ETH Zürich ein Beschwerdebrief, der heute in der ETH-Bibliothek archiviert ist. Als «befremdlich» befand es die Autorin des Schreibens, dass es im Gebäude der Hochschule keine Damentoiletten gab. Anna Schinz-Mousson gehörte einer einflussreichen Zürcher Familie an, und für sie kam es nicht in Frage, dass die «anständigen jungen Damen», die an der ETH studierten, die Herrentoiletten benutzten.

Brief von Anna Schinz-MoussonETH-Bibliothek, Archive, SR3 1918, Nr. 574

«Für die weiblichen Studierenden herrscht deshalb ein gesundheitsschädlicher Zustand, unter dem sie leiden.» Das schrieb Anna Schinz-Mousson am 29. Mai 1918 an das Rektorat der ETH, weil es dort keine Toiletten für Frauen gab. Brief im historischen Schulratsarchiv der ETH.

Studentinnen belächelt

Dass es in der ETH bis ins 20. Jahrhundert keine Toiletten für weibliche Studierende gab, mag erstaunen – schliesslich gehörte Zürich in Bezug auf die Zulassung von Frauen zum Studium zu den Pionierstädten Europas: Während sich in anderen Ländern an den Universitäten nur die Herren der Oberschicht tummelten, konnten sich Frauen in der Schweiz bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als reguläre Studentinnen immatrikulieren. Gleichzeitig verdeutlicht die Toiletten-Episode, dass sich die schweizerische Hochschullandschaft nur sehr langsam an die Idee der Gleichberechtigung der Geschlechter gewöhnte und weniger progressiv war, als die frühe Einführung des Frauenstudiums vermuten lässt.

Die frühe Zulassung von Frauen an Schweizer Universitäten stiess denn auch auf grosse Skepsis: «Die Studentinnen wurden von der Bevölkerung und auch von Kommilitonen belächelt oder diffamiert», sagt Regina Wecker, emeritierte Geschichtsprofessorin der Universität Basel. Das zeigt auch die polemische Streitschrift eines Professors, der sich 1872 in der NZZ zur Aussage verstieg, Frauen fehle das «geistige Vermögen» für ein Medizinstudium. Als Beleg nannte er den Gewichtsunterschied zwischen dem männlichen und dem weiblichen Gehirn.

«Die frühen Anfänge des Frauenstudiums leiteten keinen kontinuierlichen Prozess ein, weder in Bezug auf die Zahl der Studentinnen noch auf die der Professorinnen.»Regina Wecker, Historikerin

Zu Beginn waren es vor allem russische Studentinnen, die sich an Schweizer Universitäten immatrikulierten. Sie unterschieden sich also nicht nur in ihrem Geschlecht, sondern auch in ihrer Nationalität von der Mehrheit. So mischten sich in die grundsätzliche Ablehnung des Frauenstudiums auch fremdenfeindliche Elemente: Den «russischen Frauenzimmern» wurde unter anderem vorgeworfen, sie würden sich mit einem liederlichen Kneipenleben, freier Liebe und politischem Engagement an «die äussersten Grenzen der Moral» begeben. Nach der Zulassung von Frauen an Schweizer Hochschulen sollte es über hundert weitere Jahre dauern, bis Studentinnen kein Exotikum mehr darstellten. «Die frühen Anfänge des Frauenstudiums leiteten keinen kontinuierlichen Prozess ein, weder in Bezug auf die Zahl der Studentinnen noch auf die der Professorinnen», sagt Regina Wecker. Als diese Zahlen an Schweizer Universitäten jedoch gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunahmen, wurde auch das Erfolgspotenzial einer vielseitigen Hochschullandschaft erkannt – zum Beispiel bei der erhöhten Kreativität geschlechtergemischter Forschungsteams. Damit einher ging die Etablierung von Fachstellen für Gleichstellung an vielen Hochschulen, die der Diversitätsidee weiteren Aufwind verlieh.

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Pyramide bleibt

Dennoch hat die Tatsache, dass sich die Anwesenheit von Frauen in der schweizerischen Hochschullandschaft erst spät normalisierte, Auswirkungen bis heute. Dies bestätigt Geschlechterforscherin Patricia Purtschert von der Universität Bern: «Der Pyramideneffekt ist dort noch immer überall anzutreffen: Je höher der Status, desto weniger Frauen.» Sie betont zudem, dass bei den Diversitätsbemühungen neben der Gleichstellung der Geschlechter heute auch andere Themen in den Fokus rückten – etwa struktureller Rassismus, die Privilegierung von Studierenden der Mittel- und Oberschicht oder Barrieren für Menschen mit Behinderung.

Diese Ausweitung spiegelt sich erneut in der Toilettenfrage. Rund hundert Jahre nachdem sich die ETH Zürich den eingangs erwähnten Beschwerdebrief zu Herzen genommen und in den Zwischengeschossen Damentoiletten installiert hat, sah sich die Institution ebenso wie andere Hochschulen mit ähnlicher Kritik konfrontiert: Für Zündstoff sorgte vor rund einem Jahr der Mangel an geschlechterneutralen WCs in alten und kleinen Gebäuden der ETH Zürich sowie die Art der Kennzeichnung der WCs an der Universität Luzern. Beide Hochschulen reagierten und passten die Toiletten an.

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