Benedikt Meyer


Benedikt Meyer ist Historiker und Autor. Mit «Im Flug» hat er die erste wissenschaftliche Geschichte der Schweizer Luftfahrt geschrieben, mit «Nach Ohio» seinen ersten Roman veröffentlicht. Bei higgs erzählt er in der «Zeitreise» jeden Sonntag Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catherine Reponds tragischem Ende und von Henri Dunant bis zu Iris von Roten.

Noch bevor der Vorhang aufging, war der Ruf eines Hirten zu hören, begleitet vom harmonischen Gebimmel von Kuhglocken. Das Bühnenbild zeigte den Vierwaldstättersee, ein Fischer näherte sich in einem Boot und jenseits des Wassers lagen die grünen Matten, Dörfer und Höfe von Schwyz. Links ein felsiger Gipfel, rechts im Hintergrund vergletschertes Gebirge. So begann am 17. März 1804 die Uraufführung von Schillers «Wilhelm Tell» im Theater von Weimar. Regie führte Schillers Freund Goethe.

Der Stoff war angejahrt, aber aktuell. 1472 tauchte «Thall» erstmals im Weissen Buch von Sarnen auf, Vorläufer finden sich in älteren Erzählungen aus Norwegen und Texten aus Dänemark. Schillers Publikum hingegen dachte beim Thema Freiheitskampf und Tyrannenmord primär an die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege. Der Dichter verwob die Geschichte um die Rache des Meisterschützen mit dem Kampf der Innerschweizer Talschaften gegen die Habsburger. Und er hob den Stoff auf ein literarisches Niveau, das ihn weit über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt machte.

Für die Schweiz war der Text ein Geschenk. Schon Laharpe hatte dazu aufgefordert, den Mythos als Gründungslegende zu verwenden. Tell hatte das Potenzial, die sprachlich, sozial und religiös fragmentierte Schweiz zu einen. «Wir wollen sein ein Volk von einig Brüdern», liess Schiller seine drei Verschwörer auf der Rütliwiese sagen und machte damit deutlich: Nicht durch religiöse, ethnische oder sprachliche Zugehörigkeit wurden Schweizer zu Schweizern, sondern durch ihren Willen, gemeinsam Schweizer zu sein.

Tell schaffte es zwar nicht auf den «Fünfliber» (dort ist ein Bergbauer zu sehen), dafür aber dank Schiller auf die Bühnen dieser Welt. Immer wieder wurde das Stück verboten, immer wieder wurde es trotzdem aufgeführt. In der Schweiz hielt sich die Begeisterung zunächst in Grenzen. Es brauchte Jahrzehnte und die Unterstützung des 1848 gegründeten Bundesstaats, bis sich Tells Geschichte als Gründungsmythos durchsetzte. 1880 wurde in Uri die Tellskapelle gebaut, 1906 wasserte in Luzern das Dampfschiff «Schiller». Und die zwischenzeitlich asphaltierte «hohle Gasse» bei Küssnacht wurde 1937 so umgestaltet, wie man sich den Ort des Tyrannenmords vorstellte.
Tells Tyrannenmord wurde immer wieder neu interpretiert und beleuchtet. Wer Tell und wer der tyrannische Gessler ist, ist dabei durchaus variabel.

Digital in die Vergangenheit


Dieser Beitrag erschien erstmals auf dem Blog des Schweizerischen Nationalsmuseums.

Der Blog des Schweizerischen Nationalmuseums publiziert regelmässig Artikel über historische Themen. Diese reichen von den Habsburgern über Auslandschweizer bis hin zu heimischer Popmusik, die es zu Weltruhm gebracht hat. Der Blog beleuchtet viele Facetten der Landesgeschichte in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch. Mehr dazu gibt es unter: blog.nationalmuseum.ch

Zeitreise

In der «Zeitreise» erzählt der Historiker und Autor Benedikt Meyer Episoden aus der Geschichte der Schweiz. Von den Wanderungen der Helvetier bis Erasmus von Rotterdam, vom Mord in Augusta Raurica bis zu Catillons tragischem Ende und von Henri Dunant bis Iris von Roten. Die Serie erschien erstmals bei Transhelvetica und auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums.
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