Gegen die neurodegenerative Krankheit Multiple Sklerose (MS) wurden in den letzten Jahren mehrere neue Medikamente zugelassen. Häufig wurden diese Wirkstoffe gegen andere Krankheiten konzipiert. Die genauen Wirkmechanismen dahinter bleiben unklar. Um gezieltere Therapien zu entwickeln, versuchen Forschende, die vielfältigen Ursachen dieser Autoimmunkrankheit besser zu ergründen.

Vor allem Junge betroffen

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit, bei der das eigene Abwehrsystem die Schutzhülle von Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark angreift und zerstört. Dies führt zu Symptomen wie Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen und Schmerzen. Die Krankheit trifft in der Schweiz etwa einen von tausend, meist junge Frauen. MS ist bis heute nicht heilbar, verläuft aber unterschiedlich schwer.

Zwillingsstudien zeigen: Höchstens dreissig Prozent des Erkrankungsrisikos sind vererbbar. «Der Rest ergibt sich also aus Umweltfaktoren wie Ernährung, Hygiene und Infektionen», sagt die Ärztin und Neuroimmunologin Anne-Katrin Pröbstel von der Universität Basel. Tatsächlich haben epidemiologische Studien schon viele solcher Einflüsse aufgedeckt – beispielsweise die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Vitamin-D-Mangel und Rauchen.

Pröbstel ist von einer weiteren Ursache überzeugt: die falsche Zusammensetzung der Darmflora. So wurden erst kürzlich klare Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmbakterien zwischen MS-Patientinnen und Gesunden gefunden. Und der Stuhl von Erkrankten führt in Mäusen mit MS zu einer schwereren Erkrankung.

Immunzellen wandern ins Gehirn

Wie es möglich ist, dass Bakterien im Darm Nervenzellen im Gehirn angreifen können, zeigte Pröbstel mit Experimenten: Bestimmte Immunzellen, die Antikörper produzieren, erkennen die mit MS assoziierten Bakterienstämme. Diese Immunzellen wandern daraufhin in das Gehirn, wo sie Botenstoffe zur Regulation des Abwehrsystems produzieren.

Die Forscherin vermutet, dass solche Untergruppen von Immunzellen die Entzündung im Gehirn entweder hemmen oder verstärken: «Therapeutisch könnte man also spezifisch die gutartigen Zellen vermehren beziehungsweise die bösartigen Zellen eliminieren.» Eine andere Möglichkeit wäre, gezielt schädliche Bakterienstämme im Darm auszumerzen – etwa durch die Umstellung der Ernährung.

«Wir können schon heute bei achtzig Prozent der Betroffenen erreichen, dass die Erkrankung milde verläuft.»
Roland Martin, Neuroimmunologe

Einen weiteren Fortschritt machte kürzlich die Arbeitsgruppe von Roland Martin, Leiter der Forschungsabteilung Neuroimmunologie und Multiple Sklerose am Universitätsspital Zürich: «Wir konnten erstmals zeigen, wie ein Gen in Kombination mit einem Umweltfaktor zur MS beiträgt.» Die Genvariante mit dem spröden Namen HLA-DR15 führt dabei zur Bildung einer speziellen Gruppe von regulierenden Immunzellen, die gegen die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus reagieren. Die gleiche Gruppe Immunzellen greift aber fälschlicherweise auch Teile von Hirnzellen an, was zu MS führen kann.

Eine in Zusammenarbeit mit dem Wyss-Zentrum Zürich entwickelte vielversprechende Therapiemethode soll diese Kenntnisse nutzen, um die schädlichen Immunzellen so zu trainieren, dass sie die ihnen gefährlich erscheinenden Bestandteile der Hirnzellen tolerieren.

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Vitamin-D-Spiegel einstellen

Für Pröbstel bestätigen diese Resultate, dass MS eine multifaktorielle Krankheit ist, die das Immunsystem auf mehreren Ebenen beeinflusst. Dies erklärt laut Martin auch, warum Vitamin-D-Mangel und Rauchen zu den Risikofaktoren gehören, denn sie alle beeinflussen das Immunsystem in ungünstiger Weise. Die richtige Einstellung des Vitamin-D-Spiegels ist deshalb fester Bestandteil der Betreuung von Personen mit MS.

Martin glaubt, dass letztlich eine Kombination von Therapien zum Erfolg führen wird: «Wir können schon heute bei achtzig Prozent der Betroffenen erreichen, dass die Erkrankung milde verläuft.» In naher Zukunft bleibt hoffentlich allen MS-Erkrankten der Rollstuhl erspart.

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