Beim ersten Patientengespräch sind beide Seiten stark gefordert: die Ärzte, weil sie in kurzer Zeit eine Diagnose stellen und eine Behandlung einleiten sollten. Die Patienten, weil sie ihre oft komplexe Krankengeschichte prägnant und klar zusammenfassen müssen. Unterstützung bieten möchte dabei eine Forschergruppe der Berner Fachhochschule mit einer App, die derzeit in einer Betaversion auf dem Smartphone läuft. Künftig könnte sie zusammen mit dem elektronischen Patientendossier als Brücke zwischen Patient und Arzt eine Schlüsselrolle in der Diagnostik spielen.
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Das Layout der Applikation erinnert an WhatsApp. Ein Chatbot führt durch die Fragen zur Krankengeschichte. Vorteil gegenüber digitalen Fragebögen: Der Chatbot ermutigt dazu, alle Fragen zu beantworten, und hakt bei Unklarheiten mit klärenden Fragen nach. Ein weiterer Pluspunkt des Chatbot ist, dass man damit den Dialog unterhaltsamer gestalten kann, sei es in Form von Witzen oder mit motivierenden Äusserungen. Die Inspiration zur App lieferte 2017 eine Bachelorarbeit, die sich einer elektronischen Medikationsassistentin widmete und den Chatbot als neues Interaktionsprinzip ins Spiel brachte. Das Forscherteam wollte nun herausfinden, ob man mit dem Chatbot auch eine medizinische Anamnese erheben konnte – das Zusammentragen von potenziell medizinisch relevanten Informationen.
Chatbot
Ein Chatbot ist ein System, das mit Benutzern über natürliche Sprache (geschrieben oder gesprochen) oder über Mimik und Körpersprache interagiert. Der Zweck eines Chatbot-Systems ist es, menschliche Konversation zu simulieren. Es gibt zwei Arten von Chatbots: regelbasierte Chatbots, die ihren Dialog auf der Grundlage einiger vordefinierter Regeln oder Entscheidungsbäume generieren, und intelligente Chatbots, die künstliche Intelligenz (KI) nutzen, um den Kontext und die Absicht der Äusserung eines Benutzers zu verstehen und darauf zu reagieren.
Nachdem die Finanzierung des Projekts durch einen Förderbeitrag der Haslerstiftung sichergestellt worden war, passte das Forscherteam das Interaktionsprinzip eines Chatbots an den Anwendungsfall an. Der Chatbot soll ausschliesslich Informationen zu einem Patienten sammeln und nicht eigenständig Antworten generieren oder gar Diagnosen stellen. Darum ist die integrierte künstliche Intelligenz sehr eingeschränkt: Sie besteht darin, dass ein interpretierender Algorithmus bestimmte Muster in den Antworten erkennt und damit das Gespräch steuert. Basis ist die Artificial Intelligence Markup Language AIML zur Kapselung der Fragen und Antworten des Chatbot.
Artificial Intelligence Markup Language (AIML)
AIML ist eine XML-basierte Sprache, mit der das Wissen von Chatbot-Systemen abgebildet und gespeichert werden kann. AIML benutzt – ähnlich wie die Websprache HTML – Tags zum Auszeichnen von Elementen. Die kleinste Einheit einer AIML-Datei sind Kategorieelemente. Jede Kategorie enthält genau ein Pattern (üblicherweise in Grossbuchstaben), das die Benutzereingabe bestimmt, auf die der Bot reagiert, sowie ein Template, das die passende Antwort bereitstellt. Das Matching zwischen Benutzereingabe und AIML-definierten Pattern übernimmt ein AIML-Interpreter.
Tests mit Musiktherapie
Für die erste Testphase der App wählten Musiktherapeuten 63 Fragestellungen aus, die relevant für ihre Therapien sind. Zum Beispiel: «Hat mir meine Mutter in meiner Kindheit vorgesungen?». Oder: «Ich kann meine Stimmung durch Musik gezielt beeinflussen». Es sind selbstreflektierende Fragen, die etwas Gedankenarbeit erfordern und von den allermeisten Testpersonen beantwortet werden können – Anforderungen, die dann auch die finale Selbstanamnese-App erfüllen muss. Angefragte Musiktherapeuten zeigten sich zwar zuerst skeptisch gegenüber der App, liessen sich aber auf das Experiment ein und steuerten Fachwissen für die Fragestellungen bei. Und sie wurden nicht enttäuscht: Die mobile, dialogorientierte Benutzeroberfläche stiess bei den involvierten Fachpersonen auf sehr gute Resonanz. Durch Rückfragen kann der Chatbot auch auf Leute eingehen, die die Frage zuerst nicht verstehen. Ein Risiko bleibt jedoch: Bei heiklen Themen wie Kindheitserfahrungen könnten auch negative Erlebnisse ans Licht kommen. Im Gegensatz zu einer menschlichen Therapeutin kann die App jedoch nicht gezielt nachfragen und sofort bei der Bewältigung der Erinnerungen unterstützen. Hier braucht es noch weitere Überlegungen dazu, wie mit solchen Situationen umzugehen ist.
Eine weitere Herausforderung liegt im Datenschutz. Das Team arbeitete bereits in der Testphase mit einer verschlüsselten Verbindung, mit der die Daten der App auf eine geschützte Gesundheitsdatenbank transferiert wurden. Das Problem ist die Zwischenspeicherung auf dem Telefon. Auch müssten die Patienten jederzeit bestimmen können, wer Zugriff auf ihre Daten erhält. Im Raum steht die Hinterlegung der Selbstanamnese im elektronischen Patientendossier EPD. Die Daten müssten jedoch zuerst von einer ärztlichen Fachperson freigegeben werden. Ob dies im Prozess machbar ist, ist noch zu prüfen. Gespräche über die Integration der durch die App gesammelten Anamneseinformationen in das EPD laufen noch.
Das offiziell geförderte Projekt fand Ende 2018 seinen Abschluss. Experten für Musiktherapie von der Zürcher Hochschule der Künste haben die Fragen für die zweite Version der App nochmals überarbeitet. Das BFH-Forschungsteam führte mit 20 Experten der Musiktherapie sowie mit Studierenden der Musiktherapie weitere Tests zur Usability und zur Relevanz der gestellten Fragen mit der überarbeiteten App durch. Die Studie sollte zudem die Frage beantworten, in welcher Behandlungsphase es für Arzt und Patienten Sinn macht, die App einzusetzen: vor dem Erstgespräch und vertiefend nach einem ersten Gespräch.
Wann die App veröffentlicht wird, steht zurzeit noch nicht fest. Weitere Projekte laufen, um die Chatbot-Technologie in anderen Anwendungskontexten einzusetzen und die sprachliche Intelligenz der Systeme zu vergrössern.