Ein paar Gramm Gehirn eines Fötus sind für Mutter Lucy entscheidend: Wiegt es 110 Gramm, sollte sie problemlos gebären. Sind es 145 Gramm, müsste sich das Baby richtig drehen. Bei 180 Gramm wäre der Kopf des Fötus definitiv zu gross. Die Folge wäre der Tod von Mutter und Kind – jedenfalls ohne medizinische Hilfe. Lucy lebte vor drei Millionen Jahren im heutigen Äthiopien. Sie ist eine Berühmtheit unter den Fossilien und zählt zu den ältesten menschlichen Vorfahren, den Australopithecinen.

Diese Vormenschen gingen zwar aufrecht, besassen aber noch keine grösseren Gehirne als Schimpansen. «Was sie bereits kannten, sind häufige Geburtsschwierigkeiten», sagt Evolutionsmediziner Martin Häusler von der Universität Zürich. Mit einer neuen Studie bringt er etwas mehr Licht in ein Mysterium, das auch die Menschen heute beschäftigt: Weshalb haben wir, im Vergleich zu anderen Primaten, die längste Schwangerschaft, die komplizierteste Geburt, die unreifsten Neugeborenen?

«Forschende orientierten sich zum Teil eher an ihrer Vorstellung als am Ausgangsmaterial.»Martin Häusler, Evolutionsmediziner

Ein Teil dieses Rätsels wird traditionell mit einem evolutionären Konflikt erklärt, dem Geburtsdilemma. Der Anthropologe Sherwood Washburn hat 1960 verschiedene Theorielinien zu dieser Hypothese vereint: Als unsere Vorfahren aufrecht zu gehen begannen, wurden ihre Becken über die Generationen enger, weil dies für die zweibeinige Fortbewegung effizienter ist. Dabei entstand jedoch ein Missverhältnis zu den immer grösser werdenden Gehirnen der Föten, das Gebären wurde zusehends schwieriger. Es gibt zwar eine Lösung: Unsere Babys kommen zur Welt, bevor der Kopf endgültig zu gross ist, und sind deshalb neurologisch unterentwickelt. Dennoch bleibt die menschliche Niederkunft äusserst mühevoll.

Der aufrechte Gang brachte Komplikationen

Die Hypothese ist umstritten. So begründet etwa die Anthropologin Holly Dunsworth die Geburt noch sehr unreifer Kinder anders: Ausschlaggebend sei nicht die Schwierigkeit, das Baby durch den schmalen Geburtskanal zu pressen, sondern der Aufwand, den Fötus über 39 Schwangerschaftswochen hinaus in der Fruchtblase zu ernähren. Das könne die Mutter aufgrund ihres Energiehaushalts schlicht nicht mehr leisten.

Eine weitere Richtung schlägt der Anthropologe und Ernährungsforscher Jonathan Wells ein. Er argumentiert, dass vor allem ökologische Faktoren sowohl die Beckenmasse wie auch die Hirngrösse der Nachkommen bestimmen. Einschneidend sei demnach der Wechsel zur Landwirtschaft vor 11 000 Jahren: Die kohlenhydratreiche Ernährung habe zu einem erhöhten Geburtsgewicht und gleichzeitig zu einer kürzeren Statur der Mutter geführt – und somit zu einem kleineren Becken.

«Wie sich die Geburt über die Jahrmillionen entwickelt hat, lässt sich kaum empirisch untersuchen.»Barbara Fischer, Evolutionsbiologin

«Die theoretische Debatte hat eine Schwierigkeit», sagt Barbara Fischer, Evolutionsbiologin an der Universität Wien. «Wie sich die Geburt über die Jahrmillionen entwickelt hat, lässt sich kaum empirisch untersuchen.» Nur wenige Fossilien unserer weiter entfernten Vorfahren sind dazu gut genug erhalten. Eines davon ist Lucy. Ihr Teilskelett wurde 1974 gefunden. «Aber selbst da besteht viel Interpretationsspielraum, wenn man die Details rekonstruiert », sagt auch Martin Häusler. «Und in der Vergangenheit orientierten sich Forschende zum Teil eher an ihrer Vorstellung als am eigentlichen Ausgangsmaterial.»

Neue Methoden eröffnen nun neue Möglichkeiten: Häusler ist eigens nach Äthiopien und Südafrika gereist, um vor Ort Lucy und zwei weitere Funde von Australopithecinen nochmals zu vermessen. Mittels hochauflösender Oberflächenscans und Computertomografie erfasste er so alle Fragmente in bisher unerreichter Detailtreue als virtuelle 3D-Modelle. Auf dieser Basis haben er und sein Team anschliessend die Geburtskanäle rekonstruiert. «Der grosse Vorteil dieses Verfahrens ist, dass wir in kurzer Zeit den ganzen Spielraum ausloten konnten, mit dem sich die Fragmente zusammensetzen lassen», sagt Häusler. Zudem sei – anders als in früheren Arbeiten auf dem Gebiet – jeder Schritt für andere genau nachvollziehbar.

Schwierige Geburten besser voraussagen

Häusler geht noch weiter: Er simuliert den Weg des Babys durch den Geburtskanal. Dazu setzt er die Finite-Elemente-Methode ein, mit der man sonst etwa in der Biomechanik berechnet, wie sich künstliche Gelenke unter Spannung verhalten. Häuslers Team erlaubt sie, verschiedene Szenarien durchzuspielen, mit unterschiedlichen Annahmen zu Rotationsbewegungen während der Geburt und zur Hirnmasse des Babys. Letztere lag bei den Australopithecinen im Durchschnitt – je nach angewandtem Modell – zwischen 110 und 180 Gramm.

Individuell dürften jedoch in dieser Bandbreite alle Kopfgrössen vorgekommen sein. Und innerhalb dieser Bandbreite beobachteten die Forschenden sowohl einfache wie komplizierte Geburtsverläufe. Zwar hängt die Verteilung selbstverständlich vom angenommenen durchschnittlichen Gehirngewicht ab, doch in jedem Fall sind schwierige Geburten bei den Australopithecinen häufiger als bei Primaten, die nicht zur Stammeslinie der Menschen gehören.

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Für Barbara Fischer ist dies ein überraschender Befund: «Bisher ging man davon aus, dass diese Problematik vor rund eineinhalb Millionen Jahren entstand, als die Gehirne unserer Vorfahren an Grösse zunahmen», sagt sie. Häuslers Studie legt nun nahe, dass schon der aufrechte Gang allein zu vermehrten Komplikationen geführt hat. Und bestärkt so eher die Hypothese des Geburtsdilemmas als andere Ansätze. «Unsere Erkenntnis könnte zudem darauf hinweisen, dass sich das soziale Verhalten des Menschen entwickelt hat, bevor sein Gehirn zunahm», so Häusler. «Denn eine schwierige Geburt erfordert Beistand von anderen. » Das aber kennt man sonst nirgends im Tierreich.

«Jeder neue Fund kann das bisherige Wissen wieder in Frage stellen»Barbara Fischer, Evolutionsbiologin

Natürlich ist auch mit Häuslers Forschung nicht alles geklärt. Fischer verweist etwa auf die geringe Zahl verfügbarer Fossilien, die ein Problem bleibt: «Jeder neue Fund kann das bisherige Wissen wieder in Frage stellen», sagt sie. «Doch wir müssen stets mit dem arbeiten, was wir haben.»

Aber Fischer sieht einen potenziellen konkreten Nutzen in Martin Häuslers methodischen Fortschritten. Und zwar für die heutige Geburtshilfe. Sie selbst hat in ihrer Forschung weibliche Beckenformen und -grössen mit der Kopfgrösse verglichen. Dabei beobachtete sie bei Frauen mit grossem Kopf einen veränderten Geburtskanal, der für entsprechende Neugeborene angepasst ist. Auch andere Studien stellten eine beachtliche Varianz in der Form von Geburtskanälen fest. «So wie nun im Nachhinein bei Jahrmillionen alten Fossilien, könnte man möglicherweise in Zukunft besonders schwierige Geburtsverläufe individuell besser vorhersagen», so Fischer.

Tatsächlich entwickelt Martin Häusler seine Methoden in diese Richtung weiter. «Der nächste Schritt wird sein, nebst den Knochen auch die Weichteile in die Berechnungen einzubeziehen», sagt er. «Hierzu arbeiten wir nun mit Gynäkologinnen und Gynäkologen zusammen.» Lucys quasi vorgeburtliche Abklärung könnte also in Zukunft schwangeren Frauen helfen. Ob Lucy selbst jemals geboren hat – und falls ja, wie –, bleibt weiterhin unbekannt.

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