Manche Menschen sind zur rechten Zeit am rechten Ort. Martin Röösli ist wohl so ein Mensch. Es war im Jahr 2001, Röösli hatte soeben seine Dissertation abgeschlossen. Er hatte zunächst als Lehrer gearbeitet, dann ein Studium in Umweltnaturwissenschaften an der ETH absolviert, war Vater geworden und hatte nebst der Kinderbetreuung an der Universität Basel doktoriert. «Mit 34 Jahren war ich für eine wissenschaftliche Karriere eigentlich schon zu alt», sagt er.
Und dann geschah etwas, was die Gesellschaft revolutionieren sollte: Die Mobilfunktechnologie trat ihren Siegeszug an. Mittendrin ein junger Wissenschaftler, der überzeugt war: Was da geschieht, kann nicht gesund sein. «Es hat mich total fasziniert, dass da auf breiter Basis eine neue Technologie eingeführt wird und fast niemand dazu forscht», sagt er.
Von eigener Forschung beruhigt
Röösli, der damals am Institut für Präventiv- und Sozialmedizin an der Universität Bern arbeitete, fing an, diese Lücke zu schliessen – und wurde zum Mann der Stunde, der bis heute immer wieder in den Medien auftaucht, wenn es ums Thema Mobilfunk geht. Im Jahr 2002 schrieb er einen ersten Bericht fürs BAFU, 2004 war er an einer BAFU-Studie beteiligt, die zum Ziel hatte, die «Sorgen der Schweizer Bevölkerung im Zusammenhang mit elektromagnetischen Feldern zu erfassen».
Die Ergebnisse: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist besorgt, ohne allerdings unter Symptomen zu leiden. Das berge «ein grosses soziales Konfliktpotenzial». Der Bundesrat reagierte und bewilligte ein Nationales Forschungsprojekt zu den «Risiken elektromagnetischer Strahlung». 2011 war das Projekt abgeschlossen und Röösli beruhigt: «Ich fand, nun könnte ich auch so ein WLAN-Gerät anschaffen.» Er und seine Kolleginnen und Kollegen hatten nämlich «keine alarmierenden neuen Tatbestände zutage gefördert».
«Der typische alternative Experte ist männlich und pensioniert und hat noch nie ernsthaft zum Thema geforscht.»Martin Röösli
Dass sie «nichts» gefunden hatten, ist letztlich auch der Grund, warum Martin Röösli, der heute eine Professur für Umweltepidemiologie am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel innehat, als der eine Experte gilt: Er hat in der Schweiz wenig Konkurrenz – weil das Gebiet vielen einfach zu wenig hergibt. Es sind vor allem die Mitglieder der siebenköpfigen «Beratenden Expertengruppe nicht ionisierender Strahlung», die Röösli leitet, allesamt aus der Deutschschweiz. «Natürlich wollen Forschende etwas entdecken, das treibt sie an. Ich war ja zuerst auch überzeugt, dass ich was finden würde.»
Um diesem Bauchgefühl auf den Grund zu gehen, fuhr Röösli Anfang des neuen Jahrtausends also in der ganzen Schweiz herum, machte Messungen bei Antennen und Tests mit sogenannten strahlensensitiven Menschen. Mit diesen setzt er sich bis heute auseinander. «Ich finde es spannend, mit ihnen zu diskutieren», sagt er. «Wenn jemand ein Problem hat, habe ich zuerst einmal Empathie.» So wie mit jenem Mann, den der Forscher zu sich ins Labor einlud. Er wollte testen, ob dieser Mobilfunkstrahlung spüren konnte. Der Mann reagierte nur in vier von zehn Tests auf die Exposition. «Reiner Zufall», sagt Röösli.
Martin Röösli
Der Betroffene jedoch stufte die Trefferquote als «gutes Resultat» ein. Dagegen kommt der Wissenschaftler nicht an: «Viele Menschen möchten einfach eine wissenschaftliche Bestätigung ihrer Befürchtungen.» Es ist eine Art Glaubenskrieg, bei dem sogenannte alternative Forschende Hochkonjunktur haben. «Der typische alternative Experte ist männlich und pensioniert und hat noch nie ernsthaft zum Thema geforscht», sagt Röösli. Viele von ihnen sind etwa unter den Unterzeichnenden auf der Website des 5G Appeal zu finden.
«Wenn man alle Leute mit Doktortitel schon als Forschende bezeichnet, gibt es auch mehr sogenannte Forschende, die behaupten, dass elektromagnetische Felder gefährlich sind, als solche, die das Gegenteil belegen», sagt Röösli. Dieses Ungleichgewicht findet er problematisch, und es liefert seiner Gegnerschaft Munition. Einer ihrer Hauptvorwürfe: Röösli sei gekauft.
«Mit der Covid-19-Pandemie haben die Leute ein anderes Thema gefunden.» Martin Röösli
Tatsächlich ist aber seine Forschung nur von der öffentlichen Hand oder gemeinnützigen Stiftungen finanziert. Bei Letzteren fliessen zwar manchmal Gelder der Mobilfunkindustrie. Röösli hat aber kein Problem damit, «solange die Industrie keinen Einfluss auf die Ausschreibung und die Auswahl der Projekte hat». Zudem geht in der aufgeheizten Diskussion auch oft unter, dass Röösli der Industrie nicht nur Freude macht.
So hat er eine Studie vorgelegt, die darauf hindeutet, dass Jugendliche, die ständig ihr Handy am Ohr haben, ihrem Gedächtnis schaden. Das hat allerdings nichts mit den Antennen zu tun, sondern vielmehr mit der Stärke des Signals am Ohr. Denn: «Ist die Verbindung schlecht, kann ein Handy bis zu 100 000-mal stärker strahlen als bei einer stabilen Verbindung», so Röösli.
Gegen «kompletten Quatsch»
Der Luzerner wirkt im Gespräch stets nüchtern, fast ein wenig distanziert. Aber kann ein Forscher, der regelmässig in sozialen Medien oder Kommentarspalten als wissenschaftlicher Handlanger einer gesundheitsschädigenden Industrie attackiert wird, wirklich immer so ruhig bleiben? «Natürlich hinterlässt das Spuren. Und manchmal bin ich mental schon sehr involviert», sagt er. «Ich versuche einfach, möglichst emotionslos Fakten zu kommunizieren.»
Zwar habe er «ein paar mühsame Sachen» erlebt, richtig militant sei jedoch nur «eine relativ kleine Gruppe» – und sowieso: «Mit der Covid-19-Pandemie haben die Leute ein anderes Thema gefunden», sagt er. Aber es mache ihn «schon nervös, wenn kompletter Quatsch erzählt wird – etwa, dass Covid und 5G angeblich zusammenhängen. Da fühle ich mich verantwortlich, die Fakten geradezurücken.»
«Weltweit haben mehr Menschen ein Handy als Zugang zu sauberem Wasser, deshalb ist es nötig, dort genau hinzuschauen.» Martin Röösli
Allerdings steht die Mobilfunkstrahlung schon seit ein paar Jahren nicht mehr im Zentrum von Rööslis Arbeit. Inzwischen beschäftigt er sich vor allem mit den Auswirkungen von Lärm auf unsere Gesundheit. So dokumentierte seine Forschungsgruppe einen Zusammenhang zwischen Lärm und Diabetes und zeigte, dass rund 500 der etwas über 20 000 jährlichen Herz-Kreislauf-Todesfälle in der Schweiz unter anderem auf Lärm zurückzuführen sind. Ausserdem konnte er nachweisen, dass Tempo-Dreissig-Zonen gut für die Gesundheit sind – und zwar vor allem wegen der reduzierten Lärmbelastung.
Es ist fast ein Paradox: Je mehr sich Röösli dem Lärm zuwendet, umso ruhiger dürfte es um ihn werden – obwohl: Ganz sicher ist er da auch nicht. «Nächstens wird die politische Diskussion um Lärmgrenzwerte losgehen», prophezeit er. Er findet es jedoch wichtig, dass sich auch künftig noch Forschende finden, die sich nicht davon abschrecken lassen, beim Thema elektromagnetische Felder vielleicht wieder nichts zu finden. Denn: «Weltweit haben mehr Menschen ein Handy als Zugang zu sauberem Wasser», sagt Martin Röösli. «Deshalb ist es nötig, dort genau hinzuschauen.»