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Von Sokrates bis Spielberg: immer wieder wird das kulturpessimistische Narrativ gepflegt, dass neue Technologie, die Menschen dumm mache.

«Wenn die Menschen dies lernen, wird es ihnen Vergesslichkeit in die Seele pflanzen; sie werden aufhören, das Gedächtnis zu üben, weil sie sich auf das verlassen, was geschrieben steht, und die Dinge nicht mehr aus sich selbst heraus, sondern durch äussere Zeichen ins Gedächtnis rufen.»Sokrates

Heute heisst es dann zum Beispiel: Wir können uns keinen Weg mehr einprägen, weil das Smartphone ihn besser kennt. Oder: Wir können keine Karte mehr lesen, weil uns das Navigationssystem leitet. Wir müssen uns nicht mehr fragen, was wir suchen, weil Google voraussieht, was wir suchen werden.

Gleichzeitig wird die digitale Technologie immer intelligenter und durchdringt unsere täglichen Aktivitäten immer mehr: in Form autonomer Fahrzeuge oder sozialer Roboter.

«Technologie… unterbricht unsere eigene Geschichte, unterbricht unsere Fähigkeit, einen Gedanken oder einen Tagtraum zu haben, sich etwas Wunderbares vorzustellen, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, den Weg von der Cafeteria zurück ins Büro mit dem Handy zu überbrücken.»Steven Spielberg

Passend dazu gibt es auch viele Arbeiten aus der Verhaltensforschung, die das Schreckensszenario bestätigen. Sie bringen die Nutzung digitaler Technologie in Verbindung mit einer schlechteren Gedächtnisleistung, abnehmender Aufmerksamkeit oder geringerer Exekutivfunktion.

Die Schlussfolgerung, dass wegen künstlicher Intelligenz unsere eigene Intelligenz abnimmt, ist verlockend. Nun widerspricht aber eine Studie, die kürzlich in Nature Human Behaviour erschienen ist. Das Autorenteam um Anthony Chemero, ein Sozial- und Verhaltensexperte an der University of Cincinnati, sagt, das digitale Zeitalter mache uns nicht dumm.

Kurzfristige Effekte

Er hat zusammen mit Mitautoren andere Studien kritisch hinterfragt, die eben eine negative Wirkung der Technologie auf unsere Kognition nachweisen wollen. Und die Autoren kommen zum Schluss, dass Experimente zu den kognitiven Fähigkeiten höchstens einen kurzfristigen Effekt belegen würden, dass diese sich aber langfristig wieder ausgleichen. Das heisst, wenn wir gelernt haben, mit den neuen Technologien umzugehen, sind wir geistig so fit wie zuvor. Oder noch fitter.

Tatsächlich, so die Autoren, könne es scheinen, dass jemand durch den intensiven Gebrauch künstlicher Intelligenz «dümmer» werde. Dies sei aber nicht darauf zurückzuführen, dass die kognitiven Fähigkeiten dieser Person Schaden nähmen, sondern darauf, dass die Technologie deren Motivation reduziere, welche die kognitiven Prozesse überhaupt erst in Gang setzen würden.

Zwar zeigen die von den Studienautoren ausgewerteten Experimente, dass Menschen dazu neigen, die digitale Technologie als eine Art externes Gedächtnis zu betrachten und sich auf sie zu verlassen. Zum Beispiel können Probanden Antworten auf Fragen schlechter aus dem Gedächtnis abrufen, wenn sie erwarteten, dass die Informationen später auf dem Computer abrufbar sein würden.

Und daraus leiten viele Forschende ab, dass die digitale Technologie die Funktionen des Langzeitgedächtnisses – oder andere kognitive Funktionen – der Menschen beeinträchtigt.

Aber das ist gemäss der Studie von Anthony Chemero und Kollegen ein Fehlschluss. Denn es ist nicht dasselbe, ob man sich auf externe Hilfsmittel verlässt, wenn sie verfügbar sind, oder ob man kognitive Fähigkeiten verliert. Darauf deuten Befunde in zum Teil denselben pessimistischen Studien hin. Sie zeigen nämlich auch, dass sich die Probanden sehr wohl an die Informationen erinnern, wenn der Zugriff auf die digitale Technologie nicht möglich ist.

Nicht die Fähigkeit, sondern die Art zu Denken verändert sich

Daraus schliessen Anthony Chemero und Kollegen, dass die digitalen Technologien nicht unsere Erinnerungsfähigkeit verschlechtern, sondern die Art und Weise verändern, wie sich Menschen an Dinge erinnern. Denn auch wenn die Probanden bei verfügbaren digitalen Quellen sich nicht an die Informationen erinnern, so wissen sie sehr wohl, wo die Information zu finden ist.

Auch wenn Sokrates befürchtete, dass die Menschen «aufhören werden, ihr Gedächtnis zu trainieren, weil sie sich auf das verlassen, was geschrieben steht», so sind wir 2000 Jahre später immer noch in der Lage, unser Gedächtnis zu trainieren – sicher anders als zu Sokrates’ Zeiten, dafür auf eine Weise, die zu unserer Zeit und unseren Technologien passt.

Anthony Chemero kann dem viel Positives abgewinnen. Die Technologien gäben uns mehr Zeit und Energie für andere Dinge. «Wir lösen im Jahr 2021 keine komplexen mathematischen Probleme mit Stift und Papier – oder merken uns Telefonnummern.»

Wozu auch? Telefonnummern auswendig zu kennen hat weder mit Intelligenz noch mit kognitiver Leistungsfähigkeit zu tun. Sonst könnten nicht selbst geistig beeinträchtige Menschen ganze Telefonbücher auswendig lernen.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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