«Das ist doch Common Sense!», hört man oft, wenn es um die Frage geht, ob man einer Behauptung trauen kann. Wir müssen uns darum fragen: Reicht der gesunde Menschenverstand tatsächlich als Orientierungshilfe und Entscheidungsgrundlage in unserer modernen, komplizierten Welt?

Die Antwort ist ja und nein: Denn manchmal kann man sich getrost auf seinen gesunden Menschenverstand verlassen, manchmal ist es aber eher ungesund.

Ein Beispiel: Letzte Woche verkündete der private amerikanische Wetterdienst AccuWeather, dass Europa diesen Sommer grosse Hitzewellen und Dürreperioden drohen. Viele Medien – darunter 20 Minuten – übernahmen die News, ohne viel zu überlegen. Erst ein paar Tage später meldeten sich Meteorologen und Klimaforscher und kritisierten die Meldung scharf: Eine so weite Voraussage des Wetters sei nicht möglich.

Dabei hätte jeder selbst merken können – oder müssen – dass diese Wetterwarnung Unsinn ist. Man überlege: Wie gut sind die Wetterprognosen im Allgemeinen? Für den morgigen Tag treffen sie fast zu hundert Prozent zu. Auch für zwei, drei Tage im Voraus sind sie recht gut. Aber für eine Woche oder zehn Tage? Hier wird es schon schwieriger, beziehungsweise die Prognose ungenauer. Um zu merken, dass eine Wetterprognose auf Monate hinaus Unsinn ist, braucht es kein Meteorologiestudium. Die Alltagserfahrung hätte gereicht – oder eben der gesunde Menschenverstand.

Aber eben: Manchmal leitet uns dieser gesunde Menschenverstand völlig in die Irre. Zum Beispiel wenn wir die Gefährlichkeit von gewissen Dingen beurteilen, etwa von Handystrahlen. Hier kommt es gleich zu zwei Fehlschlüssen. Erstens: Sind Kinder empfindlicher gegenüber der Strahlung, bekommen sie also eher Krebs? Der gesunde Menschenverstand würde sagen: Ja. Richtig ist aber das genaue Gegenteil. Auch wenn Kinder auf den ersten Blick schwach erscheinen mögen, gegen gewisse schädliche Einflüsse wie Strahlung sind sie resistenter als Erwachsene, weil ihr Organismus noch mehr Selbstheilungskraft hat, ihre zellulären Reparaturmechanismen noch sehr aktiv sind. Ältere Menschen verkraften solche Einflüsse dagegen schlechter. Was selbstverständlich nicht heisst, dass man Kindern mehr schädlichen Einflüssen aussetzen soll. Aber es erklärt, warum die meisten Krebsarten erst in fortgeschrittenerem Alter ausbrechen.

Zweitens: Die dauernde Exposition gegenüber der Strahlung muss doch einen Langzeiteffekt haben. Schliesslich sagt uns der gesunde Menschenverstand, beziehungsweise das Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein. Bloss ist diese Analogie falsch. Zwar kann Wasser über lange Zeit auch den härtesten Stein erodieren. Aber viele biologische Prozesse laufen erst ab, wenn der äussere Einfluss einen gewissen Schwellenwert überschreitet. Zum Beispiel kann man ein Ei aufschlagen und in die Pfanne geben, die 40 Grad warm ist. Nur wird es so nie ein Spiegelei. Denn der Dotter gerinnt bei einer Temperatur von 65 Grad Celsius, das Eiklar bei 82,5 Grad. Selbst wenn das Ei einen Tag oder eine Woche lang in der 40 Grad warmen Pfanne liegt, es passiert nichts. Ein anderes Beispiel sind Gehörschäden: Jedem ist klar, dass zu laute Musik das Gehör irreversibel schädigen kann. Aber niemand erleidet auch nach tagelangem Musikhören einen Schaden, so lange er die Musik nicht zu laut aufdreht.

Will heissen: Nicht jeder prinzipiell schädliche Einfluss muss auch einen schädlichen Defekt zur Folge haben, so lange er unter einem bestimmten Schwellenwert bleibt.

In solchen und vielen anderen Fällen hilft der gesunde Menschenverstand rein gar nichts. Was hilft dann? Du weisst, was jetzt kommt: Physik, Naturgesetze, Science – oder eben Fakten. Und die sollte man manchmal besser konsultieren, bevor man nach seinem gesunden Menschenverstand urteilt. Zum Beispiel hier auf higgs.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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