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Schon vor drei Wochen, als die Taskforce ihre Warnung abgegeben hat, musste sie einige Kritik einstecken. So schrieb ein ehemaliger Journalist und heutiger PR-Berater auf Facebook:

«An dieser Schlagzeile […] werden wir die Glaubwürdigkeit der «Experten» […] messen. Denn das genau Gleiche wurde uns – total falsch! – schon vor sieben Monaten prophezeit.»

Screenshit Facebook und NZZ Artikel.Facebook-Screenshot Beat Glogger, NZZ

Ausriss Facebook und NZZ.

Wobei er «Experten» in Anführungszeichen schreibt und damit klar macht, wie wenig er von Epidemiologen, Virologen und Bio-Statistikerinnen hält. Und ein Kommentar doppelt nach und fragt, ob sich die «Damen und Herren entschuldigen werden», wenn die Horrorszenarien nicht eintreten.

Der Tages-Anzeiger schrieb am vergangenen Wochenende: «Alarmistische Prognosen schaden der Glaubwürdigkeit».

Halten wir mal fest, was die «Damen und Herren Experten» eigentlich tun: Sie beobachten die epidemiologische Entwicklung, treffen Annahmen und leiten daraus ab, was in naher Zukunft geschehen wird. Dies unter der Annahme, dass es so weiterläuft, wie es gerade läuft.
Hier kritisiert der Tages-Anzeiger: «Prognosen basieren auf Annahmen, die nicht eintrafen.»

Sorry, so einen Satz kann nur jemand schreiben, der von der Sache gerade mal null Ahnung hat. Annahmen sind die Ausgangslage einer Prognose und nicht das heute beobachtete Ergebnis einer Entwicklung.

Eine Art Anti-Auffahr-System

Hierzu ein Vergleich: In jedem modernen Auto ist heute ein Anti-Auffahr-System eingebaut. Es funktioniert mit zwei Messwerten: Erstens registriert es die Geschwindigkeit des eigenen Autos. Zweitens misst es die Distanz zum vorausfahrenden. Wenn sich diese verringert, berechnet es, wie lange der Bremsweg wäre – oder einfacher gesagt, ob ein Crash droht.

Ehrlich gesagt, bei mir blinkt und piept es ab und zu. Aber noch nie hatte ich einen Auffahrunfall.

Was schliessen wir daraus mit der Logik des Tages-Anzeigers, des PR-Beraters und des Facebook-Users? Das Warnsystem taugt nichts!

Es sagt einen Crash voraus, der – zumindest bei mir – noch nie eingetreten ist. Also ist das System reine Angstmacherei, oder Alarmismus.

«Moment mal», wird da der eine oder die andere einwenden. «Das ist doch nicht zu vergleichen. Wenn der Alarm anspringt, gehst du ja vom Gas, oder trittst auf die Bremse.»

Ganz genau.

Ich trete auf die Bremse, weil ich gewarnt wurde. Ein Alarm ist eine Warnung. Wenn es für eine Warnung keinen Grund gibt, dann wäre es Alarmismus.
Aber die Corona-Taskforce hat nicht ohne Grund gewarnt. Und sie hat nicht vorausgesagt, dass wir in so und so viel Wochen mit Sicherheit überfüllte Intensivstationen haben. Sie hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies geschehen könne, wenn wir keine weiteren Massnahmen ergreifen. Beim Autofahren heisst das, vom Gas oder auf die Bremse. Bei Corona heisst es strengere Hygieneregeln, Spitalbetten aufrüsten, lokale Mini-Lockdowns – oder was auch immer.

Der Präsident der Taskforce Martin Ackermann sagt es so: Ziel der Prognosen sei, zu verhindern, dass sie eintreffen.

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Abgesehen davon: In einigen Westschweizer Kantonen sind die Prognosen tatsächlich Realität geworden: die Intensivstationen sind voll belegt, Spitäler müssen Patienten in andere Krankenhäuser überweisen, das Personal ist überlastet. Aber eben, weitab von den Hotspots – aus dem sicheren Büro in Zürich – ist es einfach, die Glaubwürdigkeit der Experten anzuzweifeln.

Stellen wir uns zum Schluss die Situation mal umgekehrt vor: Die Wissenschaft hat Modellberechnungen, die zeigen, was zu erwarten ist, gibt davon aber nichts der Öffentlichkeit oder der Politik preis. Dann kommt sie, die zweite Welle. Und die Spitäler sind überlastet, Menschen sterben, weil man sie nicht versorgen kann. Was würden wir dann urteilen? «Die haben alles vorausgesehen und uns nicht gewarnt.» Das wäre der Skandal!

Sollen wir also von der Taskforce und den Medien, die ihre Prognosen verbreiten, eine Entschuldigung verlangen, wenn die zweite Welle doch nicht so schlimm kam?

Nein, ganz im Gegenteil: wir sollten ihr Danke sagen. Danke, dass sie uns warnen und uns Zeit zum Reagieren geben. Damit wir wie beim Autofahren auf die Bremse treten können.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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