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Als anfangs 2020 die ersten Menschen dem Sars-CoV-2-Virus zum Opfer fielen, geschah das in China. Weit weg von uns – und es hatte nichts mit uns zu tun. Dann wurde aus den einzelnen Fällen eine Pandemie, die sich auf dem ganzen Globus ausbreitete. Aber auch das Altersheim in Bergamo war noch immer weit weg von uns. Plötzlich erkrankten und starben die ersten Leute im Tessin. Das liegt zwar in der Schweiz, aber noch immer spürte ein Grossteil der Bevölkerung nicht, dass das Geschehen näher rückt, oder dass es sie betreffen könnte.
Denn es waren ja zumeist sehr alte Menschen, die da starben. Die wären ja sowieso bald gestorben, hiess es. Oder die Opfer waren Menschen mit Vorerkrankungen, an denen man selbst nicht leidet. Und man hatte schnell die sogenannten «Risikogruppen» identifiziert, zu denen man selbst nicht gehörte. Also ging Covid die meisten noch immer nichts an. Das erinnert fatal an die Anfänge von Aids zu Beginn der 1980er-Jahre.
Aus einer Bedrohung macht man gerne «die Krankheit der Anderen»
Aids wird vom HI-Virus verursacht, das wie Sars-CoV-2 sehr wahrscheinlich von einem Tier auf den Menschen übergesprungen ist. Die ersten Opfer waren homosexuelle Männer. Aids galt als «Schwulenseuche», wenn nicht sogar als Strafe Gottes. «Selber schuld, wenn sie diese Art von Sex praktizieren.» So war es einfach, Aids zu ignorieren – wenn man nicht zu dieser Bevölkerungsgruppe gehörte.
Aber es brauchte vielleicht nur einen einzigen bisexuellen Mann, und Aids war bei den Heterosexuellen angekommen. Aber zunächst wieder in einer Szene, von der man sich leicht distanzieren konnte: Prostitution, Drogenmilieu. Alles Kreise, mit denen man selbst nichts zu tun hatte.
Aber das Reduit jener, die sich vermeintlich sicher fühlen, wurde immer kleiner. Denn nur schon einen neuen Partner kennenzulernen, war ein Risiko, da man dessen sexuelles Vorleben nicht bis ins letzte Detail kannte. Und irgendwann war allen klar, dass Aids so gut wie jeden und jede betreffen kann.
Dass man eine Krankheit als die Krankheit «der Anderen» definiert, obschon der eigene, sichere Kreis immer kleiner wird, zeigt, wie gerne wir uns in einem Gefühl von falscher Sicherheit suhlen. Und diese bringt es mit sich, dass Aufklärungsaktionen und Präventionsmassnahmen nur langsam vorankommen.
Und im aktuellen Fall von Covid-19 wehren sich jene, die sich das Undenkbare nicht vorstellen können, gegen Prävention und Einschränkung.
Vor Covid-19 ist niemand sicher
Doch nach den über 80-Jährigen im Tessiner Altenheim waren es Leute mit mehreren Vorerkrankungen. Kinder und Jugendliche wurden von Vorsichtsmassnahmen ausgenommen, da es die ja scheinbar nicht betrifft. Dann erkrankten Leute um die Sechzig, dann solche zwischen Vierzig und Sechzig, dann wurden sie immer jünger.
Zwischendurch ortete man den Seuchenherd mal bei religiösen Gemeinschaften, bei Jodelchörli oder Fussballfans. Nach den Sommerferien waren die Heimkehrenden aus den Balkanferien dran. Es folgten die Twens und Teens. Und jetzt sind es die Primarschüler.
Doch bis zuletzt fühlen sich viele noch immer nicht bedroht, weil es ja eine Krankheit «der Anderen» ist, zu denen man sich selbst gerade nicht gehörig zählt. Egal wie schnell eine Seuche durch das Land, die Bevölkerungsgruppen oder die Generationen fährt, es gibt immer eine Gruppe, auf die man die Krankheit projizieren kann.
Das sollte uns zu denken geben. Es zeugt nicht nur von einem falschen Gefühl der Sicherheit, sondern auch von unendlicher Überheblichkeit. Viel gescheiter würden wir akzeptieren, dass es dem Virus völlig egal ist, wen es befällt. Es sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstandes. Und der führt immer über die Gruppe, die die Augen vor der Realität verschliesst und sich selbst am sichersten wähnt.
Immerhin gibt es bei Aids eine Möglichkeit, sich absolut sicher zu schützen. Keine Drogen und kein Sex. Aber Covid-19 wird über die Atemluft übertragen. Hier ist Enthaltsamkeit doch eher schwierig.