Das musst du wissen

  • Die Zahl der Klimaflüchtlinge hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
  • Schuld sind häufig sogenannte schnelle Klimaphänomene wie Hurrikane oder starke Überschwemmungen.
  • Auch in der Schweiz gibt es Klimavertriebene: Zum Beispiel nach dem Bergsturz in Bondo im Jahr 2017.

Der Anstieg des Meeresspiegels ist nur ein Beispiel von vielen: Die globale Erwärmung hat bis 2020 bereits dreissig Millionen Menschen dazu veranlasst, ihre Heimat zu verlassen. Doch das ist erst der Anfang. In den nächsten drei Jahrzehnten könnte es weltweit 216 Millionen Klimaflüchtlinge geben. Auch die Schweiz wird davon nicht verschont bleiben.

Warum es dringend ist.

Der jüngste Bericht des Weltklimarats IPCC vom 28. Februar ist eindeutig: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist durch die Auswirkungen der globalen Erwärmung bereits «sehr gefährdet». Diese machen viele Regionen unbewohnbar und zwingen immer mehr Menschen zur Migration. Dennoch erkennt das internationale Recht den Status von Klimaflüchtlingen nicht an.

«Die Situation ist besorgniserregend», sagt Caroline Dumas, Sonderbeauftragte des Generaldirektors der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für Migration und Klimaschutz: «Im Jahr 2020 gab es dreissig Millionen Menschen, die aufgrund von Katastrophen im Zusammenhang mit dem Klimawandel vertrieben wurden. Diese Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, wobei der Zusammenhang mit dem zunehmenden Klimawandel komplex ist.»

Für Manuel Pereira, Leiter der Abteilung für Migration, Umwelt und Klimawandel bei der IOM, ist es entscheidend, sich an dieses Phänomen anzupassen: «Wie der Weltklimarat betont, ist es für manche Menschen bereits zu spät – selbst wenn wir alle unsere Treibhausgasemissionen reduzieren. Wir haben keine andere Wahl, als uns anzupassen und zusätzlich unsere Emissionen zu senken.»

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist durch die Auswirkungen der globalen Erwärmung bereits «sehr gefährdet».

«Es gibt dreimal so viele Klimamigranten wie politische Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten», erklärt François Gemenne, Hauptautor des jüngsten IPCC-Berichts und Direktor des Hugo-Observatoriums, das sich der Umweltmigration an der Universität Lüttich in Belgien widmet. Er fügt hinzu: «Diese Zahlen klammern die Vertreibungen aus, die auf langsamere Klimaauswirkungen zurückgehen wie den Anstieg des Meeresspiegels oder die Verschlechterung der Bodenqualität. Viele Wirtschaftsmigranten sind in Wirklichkeit Klimamigranten, die zum Beispiel eine ländliche Region verlassen haben, weil sie aufgrund von Umweltveränderungen nicht mehr von der Landwirtschaft leben konnten.»

Die Schwächsten sind in erster Linie betroffen.

«In den Entwicklungsländern ist der Klimawandel zwar selten der einzige Grund für Migration», sagt Caroline Dumas. «Aber er ist ein Faktor, der dazu neigt, die Verletzbarkeit der Menschen zu vervielfachen und zu verstärken. Die am meisten betroffenen Regionen sind Süd- und Südostasien, die Pazifik- und Karibikinseln, Teile West- und Ostafrikas sowie Lateinamerika. Die ärmsten Länder und Regionen trifft es unverhältnismässig stark.»

Die IOM-Expertin führt aus, dass diese Migrationen häufig durch sogenannte schnelle Klimaphänomene ausgelöst werden: Hurrikane oder starke Überschwemmungen, aber auch langsamere Prozesse wie der Anstieg der Ozeane und langanhaltende Dürren. «In manchen Regionen kommen beide Faktoren zusammen, wie in Ostafrika, wo auf plötzliche Überschwemmungen eine Dürre folgt.»

Unsplash / Mike Erskine

Viele Regionen im Süden und am Horn Afrikas waren aufgrund extremer Wetterphänomene in den letzten Jahren von Dürre betroffen. (Symbolbild)

Abwanderung – eine unbegründete Angst.

Ist mit einem Massenansturm von Klimamigranten auf Europa zu rechnen? Caroline Dumas sagt: «Nein», und erinnert daran, dass die meisten der erfassten Migrationen nie eine Grenze überschreiten: «Mehr als achtzig Prozent der durch den Klimawandel bedingten Migrationen finden innerhalb des Herkunftslandes statt: Die Menschen ziehen in eine benachbarte Region, oft nur vorübergehend. Diese Befürchtungen sind also unbegründet.»

Dies gilt umso mehr, als sich die erhöhte Vulnerabilität nicht zwangsläufig in Mobilität niederschlägt. Denn der Klimawandel kann auch das Gegenteil bewirken, sagt Etienne Piguet, Professor für Humangeographie an der Universität Neuchâtel und Experte für Umweltmigration: «Mobilität erfordert Ressourcen, über welche die ärmsten und verletzlichsten Menschen nicht immer verfügen. Darum wird die globale Erwärmung die Immobilität verstärken. Das kann dazu führen, dass Betroffene in der Falle sitzen.»

Die Vergessenen des internationalen Rechts.

  • Klimavertriebene werden von der Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 nicht anerkannt, da diese keine Bestimmung über das Klima als Fluchtgrund enthält.
  • Im Jahr 2020 erliessen die Vereinten Nationen ein historisches Urteil, in dem sie die Rückführung eines Migranten von den Kiribati-Inseln in sein Heimatland für illegal erklärten. Dies, weil sein Leben dort durch den Anstieg des Meeresspiegels bedroht sei.

Dieses Beispiel ist jedoch anekdotisch. «Es handelt sich nicht um einen Flüchtlingsstatus, und die vom UN-Ausschuss festgelegten Bedingungen bleiben sehr streng», sagt Etienne Piguet, der nicht unbedingt eine Ausweitung der Flüchtlingsdefinition fordert: «Manchmal kann die Gewährung von Rechten an grosse Bevölkerungsgruppen, selbst mit besten Absichten, seltsame Auswirkungen haben. Sie kann Staaten dazu veranlassen, ihre Grenzen zu verstärken, um den Zugang zu diesem Schutz zu begrenzen – der erst dann beansprucht werden kann, wenn der Migrant das Aufnahmeland erreicht hat.»

Die gleiche Ansicht vertritt François Gemenne: «86 Prozent der politischen Flüchtlinge, die unter dem Schutz der Genfer Konvention stehen, sind in Ländern des Südens untergebracht. Eine Änderung des Status würde das Problem nicht aus der Welt schaffen, sondern nur eine zusätzliche Belastung für die Entwicklungsländer darstellen.»

Eine regionale Anpassung.

Etienne Piguet empfiehlt eine Anpassung auf lokaler Ebene: «Da die meisten Menschen innerhalb des Landes umziehen, ist es vielversprechend, regionale Solidaritätsmechanismen zu schaffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Gemeinschaften sich bereits anpassen – die besten Klimaexperten sind die Menschen vor Ort.»

Ein regionaler Ansatz, der von der IOM unterstützt wird, wie Manuel Pereira erläutert: «Es ist entscheidend, dass Mobilität eine Wahl bleibt. Deshalb arbeiten die Regionalbüros der IOM eng mit den lokalen Gemeinschaften zusammen, um Risiken vorzubeugen und ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken. Dies unter anderem durch Bildung und Warnsysteme. Wir planen auch Nothilfe sowie Programme zur Überwindung der Krise im Falle einer Katastrophe.»

Für François Gemenne kann eine wirksame Anpassung Ungleichheiten angehen: «Wie der Weltklimarat in seinem letzten Bericht feststellte, erhöht der Klimawandel die Ungleichheiten. Gleichzeitig wird eine ungleiche Gesellschaft auch anfälliger für die Auswirkungen des Klimawandels sein. Es ist dringend erforderlich, dass die Klimapolitik mit einer Sozialpolitik einhergeht, um die Gleichheit zu stärken. Derzeit profitieren jedoch überwiegend die Industrieländer davon.»

Unzureichende internationale Hilfe.

Machen wohlhabende Länder wie die Schweiz genug? Zwei aktuelle Vorfälle deuten darauf hin, dass sie sich manchmal vor ihrer Verantwortung drücken.

Für Etienne Piguet bleibt noch ein weiter Weg zu gehen: «Die Unterstützung für Anpassungen ist bislang unzureichend. Dabei ist der historische Beitrag jedes Landes zur globalen Erwärmung quantifiziert. Ihre Verantwortung sollte proportional zu ihren CO₂-Emissionen sein.»

Ein internationaler Hilfsfonds in Höhe von hundert Milliarden US-Dollar pro Jahr sollte ab 2020 die Entwicklungsländer bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützen. Zwei Jahre später ist diese Summe immer noch nicht erreicht. Caroline Dumas ist dennoch zuversichtlich: «Laut verhandlungsnahen Quellen sollen die hundert Milliarden bis zur nächsten Klimakonferenz der Vereinten Nationen, also 2023, erreicht werden. Diese Prognose stammt jedoch aus der Zeit vor dem Krieg in der Ukraine. Es bleibt zu hoffen, dass die Klimakrise nicht wieder in den Hintergrund gedrängt wird und die finanziellen Mittel auf andere Ausgaben umgeleitet werden.»

François Gemenne schränkt ein: «Diese Mittel sind unzureichend und werden oft in Form von Krediten statt Spenden aufgebracht – doch Anpassung kann nicht rentabel sein.»

Auch die Schweiz ist betroffen.

Von der Schlammlawine in Gondo, Wallis, im Jahr 2000 bis zu den Überschwemmungen im Sommer 2021 – auch in der Schweiz gibt es Klimavertriebene. Zwischen 2013 und 2020 verzeichnet das in Genf ansässige IDMC (Internal Displacement Monitoring Centre) in der Schweiz fast 630 Abwanderungen, die auf Naturkatastrophen zurückzuführen sind: Darunter der Bergsturz in Bondo, Graubünden, im Jahr 2017, und die Überschwemmungen im Val-de-Ruz im Kanton Neuenburg.

Auch wenn die meisten dieser Mobilitäten punktuell und temporär sind, ist für Etienne Piguet die Botschaft klar: «Die Schweizer sind vor diesem Phänomen nicht gefeit. Durch das Schmelzen des Permafrosts und der Gletscher sind die Bergregionen einer Reihe von Gefahren ziemlich ausgesetzt – wie Erdrutschen, Überschwemmungen oder Sturzfluten – die zu Bevölkerungsverschiebungen führen können.»

«Als reicher und entwickelter Staat verfügt die Schweiz über einen gewissen Spielraum für Anpassungen – was bei Entwicklungsländern nicht der Fall ist.»

Auch innerhalb Europa gibt es klimatische Verschiebungen, wie François Gemenne feststellt: «Wir beobachten eine Landflucht von Landwirten, die unter Dürre leiden, oder von Roma, die in Überschwemmungsgebieten leben. In Zukunft werden wir vielleicht eine Form von Stadtflucht erleben, wenn sich die Hitzewellen in den Städten häufen.»

Ein enges Fenster.

Ist der Homo sapiens nicht schon immer gewandert, um sich an ein verändertes Klima anzupassen? «Der Unterschied ist, dass sich die Veränderungen noch nie so schnell vollzogen haben», sagt Etienne Piguet. «Frühere Klimaschwankungen traten über mehrere tausend Jahre hinweg auf, während sich die aktuellen Veränderungen im Rahmen von Jahrzehnten oder sogar von Jahr zu Jahr zeigen.»

Eine Dringlichkeit, die im jüngsten Bericht des Weltklimarats noch schärfer formuliert wird. Er warnt davor warnt, dass ab einer globalen Erwärmung von zwei Grad Celsius mehrere Regionen der Welt nicht mehr in der Lage sein werden, sich anzupassen. «Es geht um die Bewohnbarkeit unseres Planeten, und das Zeitfenster für die Anpassung schliesst sich schnell», sagt François Gemenne. «Jedes Zehntelgrad zählt. Wir müssen handeln – jetzt.»

Dieser Beitrag wurde erstmals auf Heidi.news veröffentlicht. Er wurde von Corinne Goetschel aus dem Französischen übersetzt.

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Hier gibt es Wissenswertes aus der Westschweiz. Die Beiträge stammen von unserem Partner-Portal Heidi.news, wir haben sie aus dem Französischen übersetzt. Heidi.news ist ein Online-Portal, das im Mai 2019 lanciert wurde und das sich unter anderem auf die Berichterstattung über Wissen und Gesundheit spezialisiert. Die Partnerschaft zwischen Heidi.news und higgs ist durch eine Kooperation mit dem Schweizerischen Nationalfonds SNF entstanden.
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