Das musst du wissen
- Forschende haben untersucht, wie häufig englische und spanische Wörter im Verlauf der Zeit in Büchern verwendet wurden.
- Sie fanden heraus: Zwischen 1850 und 1980 wurden rationale Begriffe immer beliebter, dann folgte die Trendwende.
- Das «postfaktische Zeitalter» spiegelt sich auch in anderen Sprachen und in Artikeln der New York Times wider.
Verschwörungstheorien und «alternative Fakten» sind nicht erst seit der Pandemie im Aufwind. Zumindest linguistisch lässt sich seit rund 40 Jahren ein Trend beobachten, bei dem sprachlich immer weniger rationale Begriffe verwendet werden. Wörter wie «Analyse», «Ergebnis» oder «bestimmen» verlieren zunehmend an Beliebtheit. Gleichermassen sind Begriffe, die auf persönliches Empfinden hinweisen, wie «fühlen», «vorstellen» und «glauben» wieder häufiger zu lesen. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team aus Forschenden der niederländischen Universität Wageningen und der amerikanischen Indiana University. Ihre Ergebnisse publizierten sie im amerikanischen Fachjournal PNAS.
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Studie: The rise and fall of rationality in languageKommentarDies ist ein Kommentar der Autorin / des AutorsDie Studie untersucht, wie sich die Verwendung der 5000 häufigsten Wörter der englischen und spanischen Sprache in 170 Jahren entwickelt hat. Die Begrenzung auf diese zwei Sprachen schränkt die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse ein. Zudem können aufgrund von geschriebener Sprache in Büchern nur bedingt Rückschlüsse auf sprachliche Entwicklungen gezogen werden. Hinzu kommt, dass der Datensatz des Programms «Google Books Ngram Viewer» mit mehreren Millionen Büchern zwar beachtlich ist. Ein wissenschaftlicher Artikel von 2015 weist allerdings auf diverse Nachteile des Programms hin. Ergebnisse können zum Beispiel durch falsche Texterkennung verfälscht werden – zum Beispiel, weil das Programm das sogenannte «lange s» in alten Schriftsystemen fälschlicherweise als «f» erkennt.Mehr Infos zu dieser Studie...Für ihre Analyse nutzten die Forschenden das freizugängliche Programm «Google Books Ngram Viewer». Die Eingabe eines Begriffs genügt und ein Diagramm zeigt, wann das Wort wie häufig in Büchern verwendet wurde. Der enormen Korpus an Büchern machen das Tool zu weit mehr als einer Spielerei für Angefressene: Die Forschenden fütterten das Programm mit den jeweils 5000 häufigsten Begriffen in der spanischen und englischen Sprache und untersuchten, wie sich deren Beliebtheit zwischen 1850 und 2019 entwickelt hat. Schon hier zeigte sich eine Tendenz hin zu Wörtern, die auf persönliche Erfahrungen und Emotionen hinweisen – zum Beispiel «wütend», «vorstellen» und «unglaublich» – und weg von Begriffen der gesellschaftlichen Ordnung und rationalen Prozessen – zum Beispiel «Staat», «Report» und «Jahr».
Die Begriffe, die im Verlauf der Zeit besonders an Beliebtheit gewannen und einbüssten, wurden von den Forschenden schliesslich in zwei Cluster gruppiert. Dabei orientierten sich die Forschenden am Konzept des «schnellen und langsamen Denkens» von Daniel Kahneman: Der Psychologe unterscheidet zwischen «schnellem Denken», also Intuition, und «langsamen Denken», also rationalem Abwägen. Der Intuition wurden Begriffe wie «glauben», «hoffen», «denken», «zweifeln», aber auch «Weisheit» und «heilig» zugeordnet. Der Rationalität hingegen Wörter wie «Wissenschaft», «Fakt», «Daten», «Medizin» und mathematische Begriffe wie «Prozent» und «Grösse».
Das Ergebnis: Die intuitiven Wörter verloren seit 1850 zunächst lange Zeit an Bedeutung, während rationale Wörter häufiger vorkamen. Doch in den 80ern wendete sich schliesslich der Trend. Um diese These zu untermauern, zogen die Forschenden noch das Archiv der New York Times sowie ab 2004 die «Google Trends» hinzu, welche die Beliebtheit von Suchanfragen visualisieren. Zudem testeten sie ihre Hypothese, indem sie Begriffe ins Deutsche, Französische, Italienische und Russische übersetzten: Auch in diesen Sprachen und mit den zusätzlichen Werkzeugen bestätigte sich der Trend.
Die Gründe bleiben für die Forschenden spekulativ. Dass rationale Begriffe zunächst immer beliebter wurden, erklärt Hauptautor Marten Scheffer in einer Mitteilung wie folgt: «Die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und deren Vorteile könnten zu einer Aufwertung der Wissenschaft geführt haben.» Im Rückgang der Rationalität ab den 80ern und dem Wiederaufstieg der emotionsgeladenen Sprache erkennen die Forschenden das Gegenteil: Nach Jahrzehnten des wissenschaftlichen Fortschritts seien viele Menschen ernüchtert, argumentieren sie. Denn in unserem Wirtschaftssystem profitierten einige wenige besonders stark vom Fortschritt. Das Interesse an der Rationalität, die dieses System ermöglicht hat, sei damit verloren gegangen. Das macht sich laut den Forschenden auch in der Sprache deutlich. Doch diese These ist rein spekulativ. Was auch immer die genauen Gründe sind: Die Forschenden mahnen dazu, die Wichtigkeit von Intuition und Emotion anzuerkennen und gleichermassen komplexe Probleme wie den Klimawandel faktenbasiert anzugehen.