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Veröffentlicht wurde die Studie von Jonas Herby, Lars Jonung und Steve Hanke auf der Website des Instituts für Angewandte Ökonomie der renommierten Johns Hopkins University. Das klingt zunächst mal seriös. Doch nun hagelt es Kritik von Forschenden aus verschiedenen Fachrichtungen und der ganzen Welt.

Zunächst ist wichtig zu wissen, dass die Studie nicht peer-reviewed ist, sondern lediglich als PDF auf der Website des Instituts publiziert wurde. Das heisst, es hat keine wissenschaftliche Qualitätssicherung stattgefunden.

Dass die Hauptaussage der Studie falsch ist, ist sogar für Laien auf den ersten Blick zu erkennen. Wenn eine ansteckende, potenziell tödliche Krankheit umgeht und man die Kontakte zwischen Menschen reduziert, können sich weniger anstecken. Also sterben auch weniger. Das ist zunächst banal. Aber natürlich ist die Frage im Detail wichtig: Wie viele Leben haben staatlich verordnete Einschränkungen gerettet?

Todesopfer als alleiniges Mass

Die Autoren Jonas Herby, Lars Jonung und Steve Hanke bezeichnen ihr Papier als sogenannte Meta-Studie, die Daten von Einzelstudien und Arbeitspapieren in einem Überblick zusammenfasse. Sie wollten prüfen, ob staatlich verordnete Lockdowns einen Effekt auf die Covid-19-Sterblichkeit hatten.

Wichtig: die untersuchten Einzelstudien beschäftigen sich nur mit der ersten Infektionswelle im Frühjahr 2020. Damals gab es verglichen mit den darauffolgenden Wellen viel geringere Infektionszahlen, die Wirkung von Massnahmen war also auch noch wesentlich schwieriger zu entdecken.

Ausserdem wurden in der Untersuchung Studien ausgeschlossen, die Fälle, Krankenhausaufenthalte oder andere Messgrössen beobachteten. Tote waren das alleinige Mass. Damit kann die Analyse aber auch keine Aussagen darüber machen, ob staatliche Massnahmen zum Beispiel die Zahl der Corona-Infektionen oder die Menge an schweren Krankheitsverläufen beeinflussen. Aber gerade die Überlastung der Spitäler war für die Politik immer wieder die Begründung für sehr einschneidende Regelungen. Nicht zu vergessen, jene Menschen, die an Long Covid erkranken, ohne davor schwer erkrankt zu sein.

Sehr enge Auswahl von Studien

Die Autoren geben an, dass sie 18 590 Studien identifiziert haben, die sich potenziell mit ihrer Fragestellung befassen könnten. Ausgewählt haben sie dann aber nur 34 Studien, von denen schlussendlich lediglich 24 in die Meta-Analyse aufgenommen sind. Und richtig ausgewertet wurden gerade mal sieben Studien.  Dabei gibt es viel mehr und sehr hochwertige Studien, die sich mit der Wirkung von Lockdowns beschäftigt haben. (z.B. in PlosOne, British Medical Journal oder im Journal of Infection). Dies wird in vielen Kommentaren kritisiert, wie zum Beispiel von Max Geraedts gegenüber der Deutschen Presseagentur, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie an der Universität Marburg. Oder der Statistik-Professor Christoph Rothe von der Universität Mannheim bemängelt auf Twitter: «In der von Ökonomen verfassten Meta-Analyse […] werden Studien von Nicht-Sozialwissenschaftlern (z.B. Epidemiologie) automatisch als „von geringerer Qualität“ eingestuft.»

Seltsam ist auch, wie die Autoren in ihrer Analyse einzelne Studien ein riesiges Gewicht geben. Die in ihrer Publikation aufgelisteten sieben Studien schätzen den Effekt der Lockdowns auf die Zahl der Todesopfer zwischen minus 35,3 Prozent und plus 0,1 Prozent. Trotzdem kommen die Autoren zum Schluss, dass der Effekt bei bloss 0,2 Prozent Reduktion lag. Wie das? Ganz einfach: Sie geben der Studie, die behauptet, Lockdowns hätten zu 0,1 Prozent mehr Todesfällen geführt, wird massiv übergewichtet. Sie werten sie mit Faktor 7390.  Demgegenüber wird die Studie, die 35 Prozent Reduktion findet, nur mit dem Faktor 11 gewichtet – warum sie das machen, ist nicht ausreichend begründet. Dies kritisiert auf Twitter unter vielen anderen auch der deutsche Ökonom Andreas Backhaus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.

Herby, J., Jonung, L. & Hanke, S.

Auszug aus der Studie «A Literature Review and Meta-Analysis of the Effects of Lockdowns on COVID-19 Mortality»

Eigenwilliges Verständnis von «Lockdown»

Obschon die Autoren ihre Studie so verkaufen, als würde sie belegen, dass Lockdowns praktisch keinen Effekt gehabt hätten, relativiert Studienautor Herby selbst in einem ausführlichen Artikel, dass seine Arbeit nicht zwangsläufig den Schluss zulasse, Lockdowns hätten in keinem Land der Welt etwas bewirkt. Wenn Regierungen «das richtige Timing» für ihre Massnahmen gefunden hätten, dann könnten die Regeln eine grosse Wirkung erzielt haben. Die 0,2 Prozent beziehen sich auf alle staatlichen Massnahmen zum Lockdown insgesamt. Einzelnen Regelungen hingegen wird in der Meta-Analyse durchaus ein deutlicher Effekt hinsichtlich der Todeszahlen zugeschrieben – etwa dem Maskentragen am Arbeitsplatz oder der Schliessung von Clubs und Bars.

Handkehrum definieren die Autoren dann aber «Lockdown» sehr eigenwillig «als die Auferlegung von mindestens einer obligatorischen, nicht-pharmazeutischen Intervention». Gemeinhin wird darunter aber ein weitgehendes Herunterfahren der öffentlichen Freizeit, des Einzelhandels, der Arbeit sowie der Schulen verstanden.

Besonders problematisch ist, dass sich die Meta-Analyse auf den «Government Stringency Index» der Universität Oxford bezieht. Doch hat dieser Index einen massiven Nachteil. Er beachtet nur die strengsten Massnahmen. Das bedeutet, wenn ein Kanton zeitweise strengere Regeln einführt, als sie für die gesamte Schweiz gelten, behandelt der Index das, als würden die Massnahmen im ganzen Land gelten.

Zudem ist aus vielen Ländern bekannt, dass die Bevölkerung sich zum Teil schon Wochen, bevor Massnahmen angeordnet wurden, freiwillig eingeschränkt hat. Das bedeutet, der Stringency-Index und der «angeordnete Lockdown» sind keine aussagekräftige Masse, um die Wirkung einschränkender Massnahmen zu beurteilen.

Rechts-libertärer Hintergrund der Autoren

Die Autoren sind keine Epidemiologen, Virologen oder Mediziner. Steve Hanke ist Professor für angewandte Wirtschaftswissenschaften an der Johns Hopkins University. In der Werbung für die Studie schrieb er auf Twitter: «Lockdowns sind für Verlierer.» In der Vergangenheit ist er bereits damit aufgefallen, staatliche Corona-Massnahmen etwa als «faschistisch» zu bezeichnen.

Zudem ist Hanke leitender Wissenschaftler am Cato-Institut, einer wirtschaftspolitischen US-Denkfabrik mit nach eigenen Angaben «libertären Prinzipien», die sich gegen staatlichen Einfluss in Wirtschaft und Gesellschaft einsetzt.

Jonas Herby ist ein Berater der libertären Denkfabrik Cepos in Kopenhagen. Seine Schwerpunkte sind Recht und Wirtschaft. Der dritte Autor ist der pensionierte Wirtschaftsprofessor Lars Jonung, der an der Universität im schwedischen Lund lehrte.

Dass Autoren, die so viel politische Schlagseite und von der Sache an sich aber keine Ahnung haben, für eine Publikation nicht die üblichen wissenschaftlichen Wege suchen, leuchtet ein. Ihre angebliche «Meta-Studie» hätte niemals einen Peer Review Prozess bestanden – den Weg in die rechtskonservativen und Boulevardmedien hat sie aber trotzdem gefunden.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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