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An sich ist die Vorstellung ja nett: Weil wir weniger Ablenkung durch Freizeitangebote haben, haben wir mehr Sex. Kann sein. Aber dass das einen Babyboom zur Folge hat, ist gleich doppelt falsch gedacht.

Denn erstens bedeutet mehr Sex nicht zwingend mehr Kinder. Denn dazwischen liegt ja noch die Empfängnisverhütung oder anders gesagt, der Kinderwunsch. Und der ist durch die Pandemie nachweislich zurückgegangen. Dies zeigen Umfragen zur Familienplanung, die in der Anfangsphase der ersten Welle in Deutschland, Frankreich, Spanien und Grossbritannien durchgeführt wurden. Bis zu 73 Prozent der Paare, die im Jahr 2020 ein Kind bekommen wollten, haben aufgrund der Pandemie beschlossen, ihre Pläne zu verschieben oder ganz aufzugeben.

Das sind Umfragen, was zeigen die Fakten?

Die Geburtenraten in 22 Ländern haben Forschende aus Mailand und Oxford untersucht. Wobei sie sich auf wohlhabende Länder konzentriert haben, in der Fachsprache redet man von High Income Countries. Der Untersuchungszeitraum berücksichtigte Geburten bis und mit März 2021, zeigte also den Effekt der ersten Pandemiewelle.

Resultat: In weitaus den meisten Ländern sank die Geburtenrate im Vergleich zum Vorjahr. Zum Teil sogar massiv. Italien minus 9,1 Prozent, Spanien minus 8,4 Prozent, Portugal minus 6,6 Prozent.

Auch in der Schweiz gab es einen Taucher, der gemäss den Forschenden jedoch rasch wieder kompensiert worden sei.

Diese Kompensation habe ich allerdings nicht bestätigen können, wenn ich die Originaldaten des Bundesamts für Statistik anschaue. Bis im Juni 2021 – aktuellere Daten sind nicht verfügbar – liegt die Geburtenrate in der Schweiz deutlich unter dem jeweiligen Monat des Vorjahres, je nach Monat zwischen minus drei bis minus zehn Prozent, und auch unter dem Durchschnitt der Jahre 2018 und 2019.

Auch wenn alle Daten gemäss Bundesamt noch provisorisch sind, der Trend ist klar: die Pandemie führt nicht zu einem Babyboom, sondern zu einem Geburtenrückgang.

Historische Pandemien hatten denselben Effekt

Im Laufe der Geschichte waren Pandemien immer eine der wichtigsten Triebkräfte für den Bevölkerungswandel. So auch zum Beispiel die Spanische Grippe von 1918. Der Grund ist einerseits natürlich, weil viele Leute sterben. Andererseits aber eben auch, weil die Verunsicherung und der Schock zu einem Geburtenrückgang führen. Dieser wird allerdings nach Abflauen der Pandemie wieder kompensiert.

Was macht Länder stark?

Von der aktuellen Pandemie am wenigsten getroffen wurde Finnland, wo sogar eine Steigerung der Geburtenraten gemessen wurde, und Holland, wo sie gleich bleib. Von den 22 untersuchten Ländern stellen die Forschenden nur gerade in sieben keinen oder nur einen geringen Effekt auf die Geburtenrate fest. Neben Finnland und Holland sind dies Schweden, Norwegen, Dänemark, Deutschland, Südkorea und die Schweiz. Warum ist das so?

Es sind Länder, die erstens ein gut funktionierendes Gesundheitssystem haben, sagen die Forschenden. Und ein gutes Sozialsystem. Das heisst, in diesen Ländern führt eine Pandemie zu weniger Angst. Selbst wenn man wirtschaftlich leidet oder zum Beispiel den Job verliert, man ist nicht gleich in seiner gesamten Existenz bedroht.

Fazit: Ein gut ausgebauter Sozialstaat führt zu weniger Zukunftsangst, und die Krise schlägt weniger auf die Lust, Kinder zu kriegen.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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