Das musst du wissen

  • Der französische Soziologe Pierre Bourdieu definierte in den 70er Jahren das Konzept des Habitus.
  • Der Habitus bestimmt unser Verhalten und unsere Einstellungen und wird uns anerzogen.
  • Der Habitus eine Gesellschaft verändert sich nur sehr langsam – weshalb sich auch Geschlechterrollen hartnäckig halten.

Gestern beim Fahrradfahren: mein Fahrrad müsste dringend wieder mal gepumpt werden. Wie mühsam! Zum Glück sehe ich bald meinen Freund, der mir helfen kann, das Rad zu pumpen. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, frage ich mich: Was ist da gerade passiert? Warum denke ich automatisch an meinen Freund? Ganz einfach, ich bin gerade in die Falle der Geschlechterrollenbilder getappt.

Geschlechterrollen prägen und bestimmen unser Verhalten im Alltag. Es scheint, als hätten wir die stereotypen Bilder derart verinnerlicht, dass wir oft nicht einmal merken, wenn unser Verhalten sich an einem Geschlechterrollenbild orientiert.

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«Ich würde ja gerne mehr im Haushalt helfen, aber immer wenn ich die Küche sauber mache, wischt meine Frau nochmals nach.» Oder: «Wenn ich unserer Tochter beim Anziehen helfe und ihr grüne Socken anziehe, dann meint meine Frau, die roten würden besser zum Kleid passen.» Aussagen wie diese hört Markus Theunert, Generalsekretär des Dachverbands Schweizer Männer- und Väterorganisationen «männer.ch», in Gesprächen immer wieder. Resigniert berichten Männer, wie die von ihnen angebotene Hilfe im Haushalt von ihren Partnerinnen abgelehnt werde.

Die Macht der Stereotype

Offenbar haben auch Frauen das männliche Rollenbild so sehr verinnerlicht, dass sie ihrem eigenen Partner nicht zutrauen, die Kinder anzuziehen oder die Küche richtig zu putzen. Wenn Frauen Männer anweisen, wie sie «typisch weibliche» Aufgaben zu erledigen haben, tragen sie dazu bei, das eigene Rollenbild zu zementieren. Mehr noch, sie tragen – oft ohne sich dessen bewusst zu sein – auch dazu bei, das männliche Rollenbild zu reproduzieren.

Das Verhalten von Frauen und Männern ist also nicht nur durch die Internalisierung des eigenen «weiblichen» beziehungsweise «männlichen» Stereotyps geprägt, sondern auch durch die Internalisierung des jeweils anderen Geschlechterideals. Aber woher kommen diese geschlechtsspezifischen Rollenbilder? Und warum sind sie bis heute wirksam?

Ein ungeschriebenes Regelwerk für unser Verhalten

Um diese Fragen zu beantworten, kann der sogenannte «Habitus» herangezogen werden, der vom französische Soziologe Pierre Bourdieu definiert wurde. Der Habitus umfasst unsere Einstellungen und Verhaltensweisen, mit denen wir uns in unseren Alltag strukturieren und uns darin zurechtfinden. Bourdieu sieht den Habitus als Resultat einer «Inkorporation von gesellschaftlichen Strukturen». Durch das soziale Umfeld, die Familie und die Medien lernen wir, wie wir uns in der Gesellschaft bewegen müssen und was von uns erwartet wird.

Historisch gewachsene Rollenbilder

Die Geschlechterrollen, die in unserem Habitus verwurzelt sind, finden ihren Ursprung in der Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Die Industrialisierung ermöglichte es einem grossen Teil der Bevölkerung, wirtschaftlich und sozial aufzusteigen. Es bildete sich ein städtischer Mittelstand. Anders als in der Ständegesellschaft definierte nicht mehr die Geburt das Lebensschicksal: durch Fleiss und Mühe konnte man es «zu etwas bringen» – zumindest als Mann.

Für Frauen war das anders. Als Frau war man vor allem Mutter und Ehefrau. Das änderte sich auch mit der Industrialisierung nicht. Im Gegenteil: Weil sich durch die Industrialisierung Erwerbs- und Privatleben räumlich trennten, wurden auch die typischen Tätigkeiten von Männern und Frauen zu scheinbar unvereinbaren Gegensätzen.

Zwar gab es auch in der vorindustriellen Zeit unterschiedliche Tätigkeiten für verschiedene Familienmitglieder, aber grundsätzlich halfen alle Familienmitglieder mit, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Mit der Industrialisierung änderte sich das. Der Mann war für das Einkommen und alles, was sich ausserhalb des Hauses abspielte, verantwortlich. Die Frau bildete das Gegenstück zum Mann und war für den Rest zuständig. Sie kümmerte sich um alles, was innerhalb der eigenen vier Wände stattfand: den Haushalt, die Kinder und den Ehemann, der am Abend müde von der Arbeit heimkehrte.

Welche Arbeit ist wie viel wert?

Durch die klare, räumlich markierte Aufgabenteilung der Geschlechter erhielt Arbeit einen neuen Charakter. In der vorindustriellen Zeit wurde nicht wertend zwischen Erwerbs- und Hausarbeit unterschieden. Grundsätzlich galt jede Tätigkeit, die dem Lebensunterhalt diente als Arbeit. Dies änderte sich in der neuen kapitalistischen Welt: Neu galten nur noch Tätigkeiten, die entlohnt wurden, als Arbeit. Hausarbeit bedeutete «Liebe, Aufopferung, Aufgehen in den Bedürfnissen der Familie» und verlor den Charakter von Arbeit.

Diese Verbindung der Geschlechter mit verschiedenen Aufgabenbereichen war eine Folge der «bürgerlichen» Ideale, die bis heute wirksam sind: Der Mann als Vernunftwesen und die Frau als Gefühlswesen. Diese Ideale wurden nicht bloss durch die Arbeitsteilung im Alltag gepflegt, sondern durch biologische Erklärungen zusätzlich legitimiert.

Beispielsweise wurden Frauen ausdrücklich davor gewarnt Rad zu fahren, da die starke Erschütterung des Unterleibes zu Geburtskomplikationen und die beim Radeln eingenommene Haltung zu einem hässlichen Katzenbuckel führe.

Wer pumpt nun den Reifen?

Heute, gut 150 Jahre später, fahre ich zwar selbstverständlich Fahrrad. Dass ich aber automatisch davon ausgehe, dass Fahrradpumpen keine «weibliche» Tätigkeit sei und mein Freund das besser könne, zeigt, wie stark die bürgerlichen Geschlechterideale heute noch in unserem Habitus verwurzelt sind, auch wenn sich die Umwelt stark verändert hat. Warum ist das so?

Die Ursache liegt in der Trägheit des Habitus. Durch Sozialisierung und Erziehung bleiben erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen über die Zeit hinweg weitgehend stabil und leiten das individuelle Verhalten selbst dann noch an, wenn es eigentlich gar nicht mehr zur Umwelt passt.

Der Habitus ist aber nicht Schicksal sondern Folge einer Gewohnheit. Wir formen ihn aktiv mit unserem Verhalten. Möchten wir uns aus den bestehenden Geschlechterrollen befreien, müssen wir aktiv daran arbeiten, geschlechterspezifisches Verhalten aufzubrechen. Dies ist keine leichte Aufgabe, aber eine mögliche. Denn Verhalten ist durch unseren Habitus bedingt und nicht angeboren. Aus diesem Grund werde ich jetzt in den Keller steigen und meine Fahrrad-Pumpe suchen.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von reatch.

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