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Exponentielles Wachstum hört man – und die Forschenden zeigen uns eine Kurve, die steil nach oben zeigt. Aber was bedeutet das? Am 3. März gab es in der Schweiz 56 bestätigte Covid-19-Fälle, am 11. März 652, am Wochenende schon über 7000. Trotzdem können die meisten das «exponentielle Wachstum» emotional nicht nachvollziehen.

Das ist normal. Uns fehlt schlicht das Gefühl für exponentielles Wachstum. Ganz im Gegensatz zum linearen Wachstum. Daran sind wir gewöhnt, weil es sich dauernd vor unseren Augen abspielt. Ein Baby wächst nach und nach bis zum Erwachsenen. Das meiste in unserem Umfeld wächst mehr oder weniger kontinuierlich: ein Haustier, oder ein Bäumchen, das wir pflanzen.

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Anders sieht es beim Wachstum von Populationen aus. Weil hier nicht nur ein einzelner Organismus wächst, sondern viele einzelne. Und diese Art von Wachstum gefühlsmässig nachzuvollziehen, ist extrem schwierig.

Beginnen wir mit einem einzelnen Virus an, es können auch Bakterien sein, oder Seerosen auf einem Teich. Jedes Individuum vermehrt sich einmal pro Tag. Am zweiten Tag sind es also deren zwei. Am dritten vier, am vierten acht und so weiter.

Und nun nehmen wir an, dass ein ganzer Seerosenteich am Tag 20 vollständig bedeckt sei. Am wievielten Tag ist dann die Hälfte bedeckt?

Die Lösung: am 19. Tag ist die Hälfte des Teichs bedeckt. Das heisst: Am letzten Tag kommt die ganze zweite Hälfte dazu. Das ist exponentielles Wachstum – und so wenig Gespür haben wir dafür. Und darum ist es wichtig, dass wir bei der Seuchenbekämpfung nicht auf unser Gefühl, sondern auf die Mathematik hören.

Seerosen auf einem Teichpixabay/Marisa04

Seerosen sind ein Beispiel für (annähernd) exponentielles Wachstum. Wenn an Tag 20 der ganze Teich voll ist, war er an Tag 19 zur Hälfte mit Seerosen bedeckt.

Was für einen krassen Unterschied es macht, ob man exponentielles Wachstum ernst nimmt oder nicht, das zeigen Philadelphia und St. Louis, beziehungsweise, wie die beiden US-amerikanischen Städte im Jahr 1918 mit der Spanischen Grippe umgingen. Philadelphia nahm die Krankheit locker. Als am 18. September die ersten Grippefälle auftraten, startete das Gesundheitsamt eine Kampagne gegen öffentliches Husten, Spucken und Niesen. Erst am 3. Oktober schloss die Stadt Kirchen, Schulen, Theater und ähnliches. Offenbar zu spät: Nach einem Monat zählte die Stadt fast 11 000 Grippetote.

Anders in St. Louis. Dort hatte man von Philadelphia gelernt. Nur zwei Tage nachdem die ersten Grippefälle aufgetreten waren, wurde die Quarantäne verhängt.

Die Auswirkungen auf die Todesfallzahlen waren frappierend. Pro 100 000 Personen sind in Philadelphia in der Spitze der Epidemie 257 Menschen pro Woche gestorben, in St. Louis nur 31.

Also: je früher man dem exponentiellen Wachstum entgegentritt, desto eher kann man die Kurve abflachen – oder anders gesagt: desto eher kann man Leben retten.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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