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Bundesrat und Wissenschaft sagen, die strengeren Massnahmen seien nötig, weil die neue Virusvariante, die in England entstanden ist und sich bereits auch in der Schweiz ausgebreitet hat, ansteckender sei.

Ansteckender, das sei ja nicht so schlimm, meinen einige. Viel schlimmer wäre doch, wenn das neue Virus tödlicher wäre. Diese Annahme ist falsch.

Ansteckender ist weitaus gefährlicher als tödlicher. Dies zeigt eine einfache Rechnung, die ich hier gerne vorführen will.

Vorausschicken will ich allerdings, dass es kein wissenschaftlich epidemiologisches Modell ist, sondern lediglich eine Veranschaulichung. Aber sie zeigt, wie krass der Unterschied zwischen tödlicher und ansteckender ist.

Gehen wir von 1000 infizierten Menschen aus. Insgesamt sind es natürlich viel mehr in der Schweiz, aber für die Rechnung ist es einfach mal ein Ausgangswert. Nehmen wir weiter an, das Virus verbreitet sich mit einer Reproduktionszahl von 1,05 – die meisten Schweizer Kantone sind gegenwärtig unter 1, aber der Wert war bis letzte Woche noch sehr aktuell. Damit werden aus den 1000 Infektionen bis morgen 1050. Bis übermorgen 1103 und so weiter. Am zehnten Tag sind es 1551, nach 20 Tagen 2527 und in einem Monat 4116 Menschen, die neu angesteckt sind. Also etwa eine Vervierfachung in einem Monat.

Wie viele Menschen davon sterben? In der Fachsprache redet man von Fallsterblichkeit oder Case Fatality Rate CFR. Rechnen wir mal, dass 1,5 Prozent der Angesteckten sterben – auch das ist ein Wert, der für die Schweiz aktuell in der Grössenordnung zutrifft. Dann sind nach zehn Tagen 23 Menschen gestorben, nach 20 Tagen 38 und nach einem Monat 62.

Nun machen wir das Virus tödlicher. Und zwar dreimal so tödlich. Es sterben also 4,5 Prozent der Infizierten. Resultat: nach einem Monat sind dreifach so viele Menschen, also 186 gestorben. Wenn es viermal so tödlich ist, sind es 248. Dreimal tödlicher, dreimal mehr Tote. Ist das schlimm?

Angesichts der Rechnung, die ich gleich zeigen werde, ist es irrelevant. Und darum sind auch die Diskussionen, wie viele Leute tatsächlich an Covid-19 sterben und der Vergleich mit der Sterblichkeit bei der saisonalen Grippe irrelevant. Viel wichtiger ist die Frage, wie ansteckend das Virus ist.

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Machen wir das Virus also 50 Prozent ansteckender. Ein Wert, von dem man bei der neuen englischen Variante ausgeht. Manche rechnen sogar mit 70 Prozent höherer Ansteckungsfähigkeit. Aber bleiben wir mal bei den 50 Prozent.

Und wir beginnen nicht mit 1000 Infektionen, sondern nehmen an, dass sich erst 100 Personen mit der neuen englischen Mutation angesteckt haben. Aus diesen 100, werden in zehn Tagen fast 6 000 Angesteckte. Aber, wenn wir jetzt keine drastischen Massnahmen ergreifen, explodieren die Zahlen: In 20 Tagen sind es unglaubliche 560 000 Neuansteckungen. Nach einem Monat: 52 Millionen. Das ist aber nur Gedankenspielerei.

Nun kommen aber noch die Toten. Und wie gesagt, das Virus ist nicht tödlicher geworden, sondern nur ansteckender.

Es sterben nur 1,5 Prozent der Infizierten. Resultat: Ausgehend von den 100 Erstinfizierten sind es mit der neuen Variante nach zehn Tagen 89 Covid-Tote. Nach 20 Tagen 8400. So viele, wie wir bisher im ganzen Jahr hatten. Wie gesagt, das ist kein epidemiologisches Modell, sondern ein Rechenbeispiel. Aber es zeigt deutlich, wie krass exponentielles Wachstum ist.

Das neue Virus bringt seine höhere Infektiosität mit sich. Man sagt dazu auch R0-Wert. Den können wir nicht verändern. Aber wir können den tatsächlichen, in unserem realen Umfeld möglichen R-Wert beeinflussen, indem wir dem Virus keine Gelegenheit geben, seine Infektiosität auszuleben. Die Mittel sind klar: Kontakte vermeiden, Abstand, Hygiene und Impfen. Denn ein ansteckenderes Virus ist wesentlich gefährlicher als ein tödlicheres.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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