Ich hoffe, der Begriff «Social Distancing» schafft es zum Unwort des Jahres 2020. Seit dieser Begriff aufgetaucht ist und immer häufiger gebraucht wird, ärgere ich mich. Geht es um «soziale» Distanz, die uns vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 schützen soll? Nein, es geht ganz banal um physischen Abstand zwischen uns Menschen.

Roger Staub, Geschäftsleiter Stiftung Pro Mente Sana

Roger Staub ist seit 2017 Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. Ausgebildeter Sekundarlehrer phil. II, Mitbegründer der Aids-Hilfe Schweiz (1985), 30 Jahre lang engagiert in der Aids-, bzw. HIV-Prävention (STOP AIDS- bzw. LOVE LIFE-Kampagne). Von 2002 bis 2016 Sektionsleiter in der Abteilung Übertragbare Krankheiten im Bundesamt für Gesundheit. Master of Public Health MPH und Master in Applied Ethics MAE.

Genauer um zwei Meter Abstand zwischen den Menschenkörpern. Wie kommt es, dass alle von «Social Distancing» reden und schreiben? Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Begriff unter Epidemiologen «erfunden» wurde, wahrscheinlich von Medizinern. Und ich glaube auch, dass diejenigen, die den Begriff geprägt haben, darunter schon verstehen, dass es um physischen Abstand geht. Ich habe nichts dagegen, wenn die Medizin eine eigene Sprache pflegt und man nur dazugehört, wenn man weiss, was die Begriffe in der Medizin bedeuten. Solche Begriffe zu lernen ist ja ein wichtiger Teil des Medizinstudiums.

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Problematisch wird es, wenn solche Begriffe in der Kommunikation mit der Bevölkerung gebraucht und von allen nachgeplappert werden. Es besteht kein Zweifel, dass die Bevölkerung eine Empfehlung umso besser versteht, je genauer sie bezeichnet, was zu tun ist. Wir haben am Beratungstelefon immer wieder besorgte Menschen, die sich fragen, was sie jetzt noch dürfen und was nicht. Und viele, die mit dem Begriff «Social Distancing» nichts oder nur wenig anfangen können und sich fragen, was damit gemeint sei.

Ich freue mich, dass ich mit meiner Meinung zu «Social Distancing» nicht alleine bin: Ilona Kickbusch, weltweit für ihren Beitrag zur Gesundheitsförderung und zur globalen Gesundheit anerkannt, sagte schon am 16. März: «We need to change language: We need physical distancing NOT social distancing. We actually need to increase our social cooperation.» Bei Corona geht es um PHYSISCHEN Abstand, und auch die Schweiz braucht in diesen Zeiten mehr soziale Nähe! Sagen oder schreiben wir es doch so.

Viren sind keine Lebewesen

Sprache «verrät», wie und was wir denken. Und darum bin ich so hellhörig, wenn ich im Zusammenhang mit Viren – aktuell Corona – Wörter wie «überleben», «nisten sich ein», «bedrohen» etc. höre und lese. Wer sich Viren als Lebewesen vorstellt, entwickelt möglicherweise übertriebene Ängste und kann die Übertragungsrisiken unter Umständen nicht richtig einschätzen.

Hier ein paar Zitate aus der NZZ vom Samstag, 21. März, zur Illustration. Solche und ähnliche Beispiele findet man auch «sogar» in der Republik und auch auf higgs):

  • «Selbst bei einer Luftfeuchtigkeit … gelang es dem Erreger, sich weiterzuverbreiten.» – Nein. Der Erreger wird weiterverbreitet. Selbst kann er nicht.
  • «… dass es ein neues Virus es viel leichter habe, auch bei suboptimalen Umgebungsbedingungen zu überleben.» – Nein. Das Virus lebt nicht, darum kann es auch nicht überleben.
  • «Selbst wenn das Virus im Frühling und Sommer weniger lang überlebt als im Winter, findet es ausreichend Personen, die es infizieren kann.» – Nein. Weder «überlebt» es, noch kann es jemanden finden und es infiziert nicht, sondern die Person infiziert sich.

Das Virus kann niemanden infizieren. Es ist ein Stück Erbinformation umhüllt von Eiweiss-Strukturen. Es lebt nicht. Es kann weder gehen noch fliegen noch schwimmen. Es kann selbst überhaupt nichts.

Deshalb hilft korrekte Sprache, das besser zu verstehen. Und wer das Problem versteht, entwickelt hoffentlich auch weniger unnötige Ängste oder gar Panik und schützt sich besser.

Neu entstandene Angststörungen wegen Corona

In der Schweiz leidet eine von sieben Personen an einer Angststörung. Die meisten können damit mehr oder weniger gut leben und haben Bewältigungsstrategien entwickelt. Seit Corona haben wir am Beratungstelefon deutlich mehr Anrufe einerseits von Menschen, deren bestehende Angststörung getriggert wurde und andererseits von Menschen, bei denen wegen Corona eine Angststörung neu entsteht.

Und die meisten von ihnen habe eine völlig falsche Vorstellung von Viren. Sie sehen böse, heimtückische, hinterhältige Lebewesen, die sie bedrohen. Letzthin habe ich ein neues Kinderbuch angepriesen gesehen, das Kindern erklären will, wie Corona funktioniert und wie sie sich schützen können. Die Viren sind im Buch mit Gesichtern, Armen und Beinen dargestellt. Leider nicht lustig, sondern tragisch. Denn einmal geprägte Bilder bleiben und können nur durch Überlagerung eines neuen Bildes ersetzt werden. Schade, wenn schon Kinder mit einer falschen Virusvorstellung geimpft werden.

Epidemien-Bekämpfung: Schützt uns der Staat oder schützen wir uns selbst?

Bis vor dem Auftauchen von AIDS hatte die Epidemien-Bekämpfung nur das klassische Instrumentarium der Seuchenbekämpfung zur Verfügung, nämlich «testen», «behandeln», «absondern». Die Seuchenbekämpfung orientierte sich an der Leitfrage: «wie suchen und finden wir möglichst schnell möglichst viele Träger eines infektiösen Agens und sorgen dafür, dass diese niemanden mehr anstecken?»

Mit der HIV-Pandemie haben wir gelernt, dass die klassische Seuchenstrategie nicht ausreicht. In den 1980er Jahren gab es lange keinen zuverlässigen Test und noch länger keine Behandlung. Über die Absonderung von Infizierten wurde zwar heftig und öffentlich diskutiert, aber nur Kuba und Schweden haben zu solchen Massnahmen gegriffen. Public Health – das heisst die Sorge um die öffentliche Gesundheit – hat unter dem Druck und der Dringlichkeit der HIV-Verbreitung die sogenannte Lernstrategie entwickelt, die sich an der Leitfrage orientiert: «wie organisieren wir einen gesellschaftlichen Lernprozess, damit wir als Gesellschaft, als besonders betroffene Gruppen und als Individuen mit dem Virus leben können?» Die Produkte der Lernstrategie bei HIV sind bekannt: Die «STOP AIDS»-, später «LOVE LIFE»-Kampagne, Präservative beim eindringenden Sex, HIV-Antikörpertest, saubere Spritzen etc. Das Geheimnis des unbestrittenen Erfolgs dieser Strategie: Die Kommunikation mit der Bevölkerung haben Kommunikationsprofis, begleitet durch ein interdisziplinäres Fachgremium, entwickelt und umgesetzt. Bei HIV haben nicht Virologen, Epidemiologen, Mediziner, Juristen, Ökonomen direkt mit der Bevölkerung kommuniziert.

In der Coronakrise beobachte ich, dass es vielen Menschen nicht klar ist, ob wir alle nun vom Staat geschützt werden oder ob wir alle uns selbst schützen sollen. Und habe den Eindruck, dass es den Verantwortlichen selbst auch nicht so ganz klar ist. Ich sehe, dass die Schweiz zwar relativ spät, aber dann zum Glück nicht überreagierend die erste Welle mit dem Lockdown erfolgreich abgewehrt hat.

Aus meiner Sicht wäre es jetzt aber höchste Zeit, dass Kommunikationsprofis übernehmen und die Bevölkerung in die Phase «Leben mit dem Virus» begleiten und die entsprechenden Botschaften über geeignete Kanäle verbreiten. Und Klarheit schaffen, was jede und jeder in den nächsten Monaten zu tun und zu lassen hat, damit keine zweite Welle erneut staatliche Notmassnahmen erfordert.

Spätestens nach der allgemeinen Verwirrung um die Grosseltern und die kleinen Kinder braucht es eine Kampagne mit klaren, einfachen und verständlichen Botschaften – möglichst wenigen – regelmässig präsent auf allen Kanälen. Und es muss geklärt werden, ob wir nun zu Hause bleiben, oder/und Abstand halten und Händewaschen sollen. Ich habe schon in meiner Zeit als Stellvertreter von Daniel Koch vorgeschlagen, dass der Bund eine «Krisenkommunikations-Persönlichkeit» aufbauen sollte, die bekannt ist und die verständlich und im Krisenfall glaubwürdig kommuniziert. Intern hiess es immer, glaubwürdig kann nur ein Arzt kommunizieren. Mein Argument dagegen lautet: Beatrice Tschanz hat für Swissair hervorragend und glaubwürdig kommuniziert, ohne selbst fliegen zu können.

Kommunikation mit der Bevölkerung ist eine Kunst, die man nicht einfach beherrscht, nur weil man Expert*in für irgendetwas ist. Eine solche Kampagne würde etwas kosten. Aufgrund der Erfahrungen mit der «LOVE LIFE»-Kampagne müsste man wohl mit mindestens 10 Millionen Franken pro Jahr rechnen, wenn die Kampagne in den nächsten Monaten stark präsent sein und die Öffentlichkeit und die verschiedenen Zielgruppen erreichen soll. Aber eine solche Kampagne wäre sicher erfolgreicher als die immer wieder ähnlichen und leicht moralisierenden Appelle, wir alle müssten und an die Regeln halten und das noch lange. Wenn sich mit einer Kampagne eine zweite Welle verhindern lässt, dann hat sie sich auf jeden Fall schon gelohnt, wenn 100 Menschen weniger an Covid-19 sterben (Studien zeigen, dass die Bevölkerung einen Preis von ca. 100 000 Franken für die Verhinderung eines vorzeitigen Todes angemessen findet). Falls der Wirtschaft ein zweiter Lockdown erspart bliebe, würde der Return on Investment einer solchen Kampagne bei mindestens 1:5 000 liegen, wenn wir annehmen, der erste Lockdown koste uns 50 Milliarden und ein zweiter wäre «nur» gleich teuer. Soll noch einer sagen, Prävention sei teuer und lohne sich nicht.

Die Lust am Restrisiko

Ich sehe in der Berichterstattung zu Sars-CoV-2 interessante Parallelen zur Zeit um 1985. Damals wurden die Übertragungswege immer klarer, aber die Frage stand im Raum, ob man sich beim Küssen mit HIV anstecken kann. Bei der Analyse der Fälle von Aids-Erkrankungen fand man keine, bei denen es nicht zu penetrierendem Sex oder zu Spritzentausch beim Drogenkonsum gekommen war. Trotzdem sorgten Studien, die zeigten, in welchen Körperflüssigkeiten das HI-Virus gefunden wurde, für grosse Unsicherheit in der Bevölkerung. Im Rückblick bin ich stolz darauf, dass das Bundesamt für Gesundheit und die Aids-Hilfe Schweiz nach Konsultation von vielen Experten zum Schluss gekommen sind, dass Küssen kein Aids-Risiko beinhalte, obwohl HI-Viren im Speichel gefunden worden waren, und dies so mittels Plakaten und TV-Spots der Bevölkerung kommunizierte.

Bei Sars-CoV-2 steht die Frage im Raum, ob das Virus über Aerosole verbreitet wird. Vielleicht wird man in naher Zukunft wissen, ob Aerosole auch eine Rolle spielen, bisher scheint es dafür aber keine Evidenz zu geben. Und das bedeutet in Analogie zu HIV vor 35 Jahren: für die Kommunikation mit der Bevölkerung braucht es wenige, klare und regelmässig repetierte Botschaften zu den relevanten Übertragungswegen, aber keine noch so gut gemeinten Ratschläge, wie mögliche Restrisiken ausgeschlossen werden können. «Leben mit dem Virus» bedeutet immer auch, dass es weitere Infektionen geben wird. Wenn wir hundertprozentig sicher sein wollen, dann wird das SEHR teuer – und lässt sich trotzdem nicht garantieren.

Kohärente, einfach verständliche Botschaften

Medienschelte liegt mir fern, aber es liegt in der Natur der Sache der medialen Berichterstattung über die Corona-Pandemie, dass die Präventionsbotschaften ihren Newswert schnell verlieren und dass Kontroversen – auch zu marginalen bis irrelevanten Aspekten des Problems – viel interessanter sind. Und weil bei den Medien viel Nachfrage nach Stoff besteht, wird diese Nachfrage von allerlei Expert*innen gerne befriedigt. In den ersten Wochen des Lockdowns wurden die Grundbotschaften recht klar und kaum verändert auf allen Kanälen weitergegeben. Heute sind sie selten geworden und werden von allerlei Informationslärm überlagert und «kontaminiert». Und die allgemeine Verwirrung wächst, nicht nur wegen Koch und den Enkelkindern.

Es ist höchste Zeit, kommunikationsmässig aus dem Krisenmodus herauszufinden und mit kohärenten, einfach verständlichen Botschaften mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Es braucht einen überzeugenden Kommunikationsauftritt, eine klare Grafik und zielgruppengerechte Umsetzungen, auch auf Social Media. Diese müssen die unsäglichen Corona-Plakate und Inserate des Bundes mit den Piktogrammen und die gut gemeinten Zusatzplakate anderer Absender wie der Stadt Zürich in völlig anderem Look und mit anderen Inhalten («Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle.») dringend ablösen. Ich hoffe, dass sich der Krisenstab Bund und das BAG bald an die Learnings aus der erfolgreichen Bewältigung der Aids-Krise erinnern und auf diesen gemachten Erfahrungen aufbauen. Das hat die Schweiz verdient. Es könnte eine zweite Welle verhüten (helfen).

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