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Einer, der in den letzten Monaten stark darunter gelitten hat, ist der Wissenschaftler, der sich wohl am stärksten für die öffentliche Aufklärung in Sachen Sars-CoV-2 eingesetzt hat: Christian Drosten, Virologe von der Berliner Charité. Für viele ist er zu der Leitfigur in der Pandemie geworden, für einige auch zum Hassobjekt. In einem Interview im Online-Magazin Republik sagt er, die «false balance» in den Medien hätte ihn überrascht.

Drosten erlebt sie seit vielen Monaten. Und mit ihm die gesamte Forschungsgemeinschaft, die sich mit Covid-19 beschäftigt. Seit Beginn der Pandemie sind zu dem Thema über 140 000 wissenschaftliche Publikationen erschienen. Nur eine verschwindend kleine Zahl sagt, die Krankheit sei ungefährlich. Keine leugnet die Existenz des Virus.

Trotzdem muss Christian Drosten, der schon bei der Entdeckung des Sars-1-Virus mitgearbeitet hat und seit bald 20 Jahren mit Coronaviren arbeitet, in Fernsehsendungen gegen einen pensionierten Lungenarzt antreten.

Trotzdem werden nicht nur auf Verschwörungskanälen, sondern auch in an sich seriösen Medienberichten konsolidierte Aussagen aus der Forschung zum Beispiel der persönlichen Meinung eines einzelnen Immunologen im Ruhestand gegenübergestellt.

Ähnliches erlebt gegenwärtig auch der Schweizer Klimaforscher Reto Knutti. Seit Jahrzehnten weiss die Wissenschaft über den Klimawandel Bescheid. Trotzdem sitzt Knutti in einer Fernsehdiskussionen einem Vertreter der Erdöllobby gegenüber, der falsche Behauptungen zur Physik des Klimawandels verbreiten darf.

SRF «Club» zum CO₂ GesetzScreenshot SRF

Im SRF «Club» diskutierten verschiedene Gäste zum CO₂-Gesetz, darunter Klimaforscher Reto Knutti (2. v. links) und Vertreter der Erdöllobby.

Einer gegen Hundert

Egal, wer recht hat, es steht eine Aussage gegen die andere. Eins zu eins. Dabei ist es ein Querschläger gegen Hunderte oder Tausende von Forschenden. Das ist false balance oder falsche Ausgewogenheit.

Natürlich leben die Medien von unterschiedlichen Meinungen, von Diskussionen. Das sorgt für Aufmerksamkeit. Aber wenn Medien bei jedem Thema einen Aussenseiter gegen einen Vertreter der etablierten Fachmeinung stellen, entwerfen sie ein verzerrtes Bild der Realität.

Das geschieht auch, wenn sie einen über 80-jährigen gelernten Elektrotechniker und Präsident eines Anti-5G-Vereins gegen die gesamte wissenschaftliche Literatur zu Gesundheitswirkungen von elektromagnetischer Strahlung auftreten lassen.

Nobelpreisträger Michael Levitt, ein Star der Covid-Verharmloser

Und selbst ein Nobelpreisträger ist nicht immer eine gute Referenz. Michael Levitt hat zwar 2013 den Chemie-Nobelpreis erhalten «für die Entwicklung von Multiskalen-Modellen für komplexe chemische Systeme». Hat sich aber nie mit Viren, Infektiologie oder Epidemiologie beschäftigt. Trotzdem hat er letztes Jahr im Alter von 74 Jahren einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Sterblichkeitsrate von Covid-19 anzweifelt und die Gefährlichkeit der Pandemie herunterspielt.

Ein Artikel in über 140 000. Vielleicht wurden auch zehn solche Artikel veröffentlicht. Und selbst wenn es hundert waren. Levitt immer wieder als «die kritische Stimme der Wissenschaft» gegen den Rest antreten zu lassen, ist eine falsche Ausgewogenheit.

Dass solche Einzelstimmen bei Corona-Skeptikern, Impfverweigerern, Klimaleugnern, Anti-5G-Aktivisten und so weiter immer gern zitiert werden, ist logisch. Sie geben den Aussenseitern den Anstrich von Seriosität. Aber Medien sollten sich davor hüten.

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Keine Plattform für Klimaleugner

Der britische Fernsehsender BBC hat die Konsequenzen schon vor drei Jahren gezogen. Sie gibt Klimaleugnern keine Plattform mehr. Dasselbe tun auch wir bei higgs. Wir müssen nicht in jedem Beitrag zu Covid-19 oder der Klima-Krise auch einen Verharmloser oder Leugner zu Wort kommen lassen, nur um Ausgewogenheit vorzugaukeln. Das heisst nicht, dass wir uns nicht mit diesen Meinungen auseinandersetzen. Aber wir tun dies kritisch und ordnen ein.

Die SRG in der Falle

Erschreckend ist, wie viele Journalistinnen und Journalisten in der Schweiz sich der falschen Ausgewogenheit bewusst sind, aber doch nichts dagegen unternehmen. Vor allem Kolleginnen und Kollegen des SRF. Letztes Jahr habe ich dies persönlich erfahren. Ich wurde von Radio SRF zu einer Diskussion mit einem bekannten Corona-Leugner eingeladen. Als ich davor warnte, dass dieser Herr nachweislich falsche Behauptungen verbreitet, gab mir der Redaktor zur Antwort: Er wisse das, aber müsse eine Gegenstimme einladen. Sonst werfe man SRF Unausgewogenheit vor.

Die wahre Unausgewogenheit ist, dass man solche Stimmen zu oft einlädt. Konsequenterweise habe ich an dieser Diskussion nicht teilgenommen. Stattgefunden hat sie trotzdem. Ohne mich.

Der Faktist

Der Faktist schaut ganz genau hin. Im Dschungel der wissenschaftlichen Studienresultate behält er den Überblick. Zeigt, was zusammenhängt. Und was einfach nicht aufgeht. Der Faktist ist Beat Glogger, Gründer und Chefredaktor von higgs. Jeden Dienstag als Sendung auf Radio 1 und als Video auf higgs.
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