Wer auch immer damit begonnen hat, die Energiedichte zu messen und diese so ernst zu nehmen, hat zahlreiche Menschen zur Verzweiflung gebracht. Geholfen hat es leider herzlich wenig.

Bettina Wölnerhanssen, Leiterin St. Clara Forschung AG

Bettina Wölnerhanssen ist seit 2019 Leiterin der St. Clara Forschung AG am St. Claraspital in Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Übergewicht und Diabetes, Metabole Chirurgie, Sättigungsregulation und Energiehaushalt sowie Kohlenhydratstoffwechsel, Zucker und Zuckeralternativen.

Aus den Köpfen ist die Kalorienzählerei dennoch nicht mehr wegzudenken. Aber was sind Kalorien und wie entstehen die Kalorienangaben auf den Nahrungsmittelpackungen? Im Labor wird eine Substanz verbrannt und gemessen, wie viel Wärmenergie daraus entsteht. Das heisst, wie viele «Kalorien» sind unter theoretischen Bedingungen maximal aus diesem Produkt herauszubekommen. Nun, der menschliche Körper ist eben kein Reagenzglas. Nicht alles, was wir essen, wird überhaupt vom Körper vollständig aufgenommen, geschweige denn verbrannt. Gewisse Substanzen können also vom Körper gar nicht aufgenommen werden, aber im Labor kann damit durchaus Wärme erzeugt werden. Und das steht dann auf der Verpackung. Jeder Körper reagiert zudem unterschiedlich: was Frau Meyer aufnimmt und verbrennt ist nicht dasselbe wie Herr Müller.

Fettansatz ist unabhängig von Kalorien

Kalorienangaben sind am Ende auch nur ein Merkmal unter vielen, die ein Lebensmittel charakterisieren und andere Eigenschaften sind für die Beurteilung, ob etwas gesund ist und ob es dick macht viel entscheidender. So beispielsweise die Frage: was passiert mit der Substanz, wenn wir sie einmal aufgenommen haben? Nüsse bewirken nicht dasselbe wie Zucker oder Weissmehl. Letztere bewirken einen Anstieg des Blutzuckerspiegels, wodurch die Bauchspeicheldrüse rasch Insulin ausschüttet – mit dem Ziel, den Zucker in die Zellen abzutransportieren und dort entweder direkt zu verbrennen oder aber als Glykogen (eine Stärkeart) einzulagern. Wenn das nicht reicht, um den Zucker aus dem Blut loszuwerden, wird Fett aufgebaut.

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Qualitativ hochwertigere Lebensmittel mit der identischen Kalorienanzahl – beispielsweise Nüsse und Gemüse – führen zu keinem oder nur zu einem langsamen Blutzuckerspiegelanstieg und somit zu weniger Insulin und entsprechend weniger Fettanbau.

Es gibt also Lebensmittel, die eher zu Fettansatz führen und solche, die das nicht bewirken, unabhängig davon wie viele Kalorien sie enthalten. Ganz abgesehen davon enthalten Nüsse und Gemüse gesunde Fasern, Vitamine und Spurenelemente, die beim Zucker fehlen. Kalorienzählen ist mit anderen Worten schlicht wertlos.

Ursprung des Kalorienmodells

Seit wann zählen die Kalorien überhaupt? Bis Mitte des letzten Jahrhunderts war die Empfehlung üblich, bei Fettleibigkeit auf stärke- und zuckerhaltige Lebensmittel zu verzichten. Erst mit Auftreten der «Fetthypothese» in den 1950ern, die inzwischen widerlegt ist, kam es zu einer Verschiebung. Fortan hiess es: Fett ist böse, Kohlenhydrate sind gut. Das war nun beim Publikum anfänglich etwas schwierig zu vermitteln. Raffinierte Kohlenhydrate konnten ja nicht gleichzeitig gut (weil fettarm) und schlecht (weil dickmachend) sein. Also lag nun der Fokus auf den Kalorien und das Modell der Energiebilanz fing nun an, das vorherrschende Modell der dickmachenden Kohlenhydrate zu ersetzen. Und dort sind – allen neuen Erkenntnissen zum Trotz – viele steckengeblieben.

Mit dem Kalorienmodell sind augenblicklich die Fette und Öle die Verlierer, denn sie geben beim Verbrennen besonders viel Energie, die Kaloriendichte ist also hoch. Zwar ist inzwischen bekannt, dass Fette und Öle zu einer gesunden Ernährung gehören. Aber dennoch wird immer wieder wird auf die Energiebilanz und die Logik der Thermodynamik verwiesen: Energie, die rein geht, muss auch wieder raus. Heisst konkret: weniger Kalorien essen und/oder mehr Kalorien verbrennen, zum Beispiel durch Sport, dann resultiert ein «Energieminus» und der Körper verliert Gewicht. Was einleuchtend klingt, ist aber in der Realität viel komplizierter. Wer zum Beispiel über die Feiertage mehr Süsses und Alkohol konsumiert, nimmt zu. Nach den Feiertagen reduziert sich das Gewicht in den Folgewochen wieder, und das auch ohne kaloriengenaues Fasten oder Sport. Eine Rückkehr zur normalen Ernährung und Aktivität genügt.

Sport alleine genügt nicht

Unsere Nahrung unterliegt täglichen, zum Teil groben Schwankungen im Kaloriengehalt, genauso wie unser Aktivitätslevel («die Ausfuhr»). Trotzdem pendelt das Gewicht nicht tageweise, sondern wird bei den meisten Menschen über Jahre in einem eindrücklich engen Rahmen gehalten. Andersherum nehmen viele ab einem gewissen Alter plötzlich zu, obwohl weder an der Zufuhr noch an der Ausfuhr von Energie aktiv etwas geändert wurde. Warum ist das so?

Die Antwort liegt in den komplexen Regulationsmechanismen unseres Energiehaushaltes. Diese dynamischen Prozesse werden von der einfachen Kalorientheorie nicht berücksichtigt. Der Körper ist durchaus in der Lage, in einem gewissen Rahmen – auch über Jahre – das Gewicht stabil zu halten, unabhängig von der theoretischen Energiebilanz. Hormonelle Veränderungen können zu einem Gewichtsanstieg führen und im Alter werden gewisse Prozesse effizienter, der Energiebedarf sinkt.

Körperliche Aktivität ist ohne Zweifel wichtig. Aber wer meint, man müsse nur genügend Sport treiben und könne dann alles essen, ganz unabhängig von der Qualität oder der Quantität, der irrt. Genauso kompensiert eine gesunde Ernährung die fehlende Bewegung nicht. Viel mehr sind diese zwei Massnahmen unabhängig voneinander wichtig.

Der Mensch ist kein Verbrennungsmotor, Übergewicht lässt sich nicht ausschliesslich durch Kalorien erklären und Kalorienangaben allein sind keine wirkliche Hilfe. Nur in Extremsituationen stimmt die Energiebilanztheorie.

Wichtig ist die Qualität und Zusammensetzung der Nahrung und ihr Wirkprofil im Körper: frisch, wenig verarbeitet und vielseitig mit hochwertigen Fetten und Ölen sowie komplexen, faserreichen Kohlenhydraten und einem niedrigen Anteil an «schnellen Kohlenhydraten» wie Zucker und Weissmehl und an minderwertigen Fetten.

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